Jamaika-Koalition:Wunsch und Realität

Wenn die Jamaika-Koalition in Berlin Wirklichkeit werden soll, dann müssen die gegensätzlichen Positionen der Parteien klar benannt werden, meint ein Leser. Ein anderer wirbt weiter für die große Koalition. Ein dritter lobt die Protestwähler.

Jamaika-Koalition: Neues Bündnis, neue Farben: Eine Flagge des Inselstaates Jamaika weht vor dem Reichstag in Berlin.

Neues Bündnis, neue Farben: Eine Flagge des Inselstaates Jamaika weht vor dem Reichstag in Berlin.

(Foto: dpa)

"Passt schon" vom 28. September und "Jamaika. Oder Via Mala" vom 27. September sowie weitere Berichte und Analysen zum Ausgang der Bundestagswahlen:

Gegensätze klar benennen

In dem Artikel "Passt schon" passt leider sehr vieles gar nicht. Von Gelb-Grün, einer neuen "Volkspartei der weltoffenen Mitte" ist hier die Rede, deren Protagonisten sich bei Koalitionsverhandlungen nur besser zuhören müssten, dann werde das schon. Da klingt viel Wunsch der Autoren durch. Aber wie sieht die Begründung aus? Die Ziele seien gleich, nur der Weg dahin sei umstritten. Diese These ist, je nachdem, wie allgemein man wird, entweder banal oder unzutreffend. Sowohl Grüne als auch FDP wollen Klimaschutz (wer will das nicht, außer der AfD, die den Klimawandel leugnet?). Ob man aber Klimaschutz mit rein marktwirtschaftlichen Mitteln ohne Wachstumskritik erreichen will, oder ob man das marktwirtschaftliche Wachstumsmodell unter ökologischen Gesichtspunkten einer Kritik unterzieht, führt zu gegensätzlichen politischen Handlungsnotwendigkeiten. Das Gleiche gilt für Rentenpolitik oder Gesundheitspolitik. Hier auf Solidarität zu setzen, wie die Grünen mit der Bürgerversicherung, oder auf Selbstvorsorge durch Aktivität auf dem Kapitalmarkt, lässt sich nicht unter der Überschrift "sichere Rente" oder "bezahlbare Gesundheitsvorsorge" seiner Gegensätzlichkeit berauben. Von der Steuerpolitik ganz zu schweigen. Hier liegen offensichtlich unterschiedliche Vorstellungen von Gesellschaft und vom guten Leben vor.

Das heißt nicht, dass Jamaika im Bund unmöglich ist. Aber es wird sicher scheitern, wenn man sich dieser Unterschiedlichkeit in der Zielsetzung nicht bewusst ist und das Wunschbild eines öko-liberalen Stadtbürgers zeichnet, der mal FDP und mal Grüne wählt. Damit ist man von der Realität in den Städten genauso weit entfernt wie mit der Behauptung, aus der Diskussion von Gymnasiasten eines Hamburger Villenviertels schließen zu können, dass die Stadtjugend auf Jamaika setzt. Da hat man sich wohl bewusst nicht in Altona oder St. Pauli umgehört. Aber vielleicht hätte man damit die Absicht konterkariert, dem sogenannten Realo-Flügel der Grünen bei den anstehenden Koalitionsverhandlungen medialen Rückenwind zu verschaffen. Rainer Güttner, Hamburg

Alle Schichten im Blick haben

Konsequenterweise hätten gleich Schüler aus Salem, Louisenlund oder sonstigen Wohlstandsinternaten befragt werden können. Welche Meinung zu dem Thema hätten wohl Schüler aus Brennpunktschulen gehabt? Anzunehmen ist, dass der Wunsch nach Karriere und damit einhergehendem Maßanzug und Porsche diesen jungen Menschen nicht das dringlichste Anliegen ist. Wen FDP-Chef Christian Lindner bei der groß angekündigten Bildungsoffensive im Blick hat, ist unschwer zu erraten. Somit ist in dem Artikel ausschließlich seine Klientel zu Wort gekommen. Die FDP wird es Ihnen danken! Ich hoffe, dass es auch in Zukunft bei der SZ Redakteure geben wird, die das gesamte Spektrum der bundesdeutschen Gesellschaft betrachten und möglichst für alle sozialen Schichten ein Sprachrohr sind. Hans-Ulrich Trümner, Reinbek

Gegen italienische Verhältnisse

So wie die Parteienlandschaft in Deutschland aussieht, wird es wohl keine absolute Mehrheit für eine Partei mehr geben. Die kleinen Parteien können und müssen in der Regierung sicher einige ihrer Forderungen umgesetzt sehen. Bei den Koalitionsverhandlungen sollten sie aber ihre Prozentzahlen beachten und nicht zu hoch pokern (vor allen Dingen nicht die CSU als kleinste und darüber hinaus noch als Regionalpartei), um ein Scheitern zu vermeiden. Italienische Verhältnisse (ca. pro Jahr eine Regierung seit 1945) müssen/sollten die Parteien vermeiden.

Wolfgang Peine, München Wenn man jetzt liest, die Medien hätten die AfD groß geredet, so mag das zum Teil stimmen. Viel wesentlicher aber ist, dass die Medien die Koalition aus CDU/CSU und SPD klein geredet haben und damit allen, die diese Koalition ohnehin nicht wollten, Wasser auf ihre Mühlen gegossen haben. Diese Koalition hat sicher nicht alle Erwartungen erfüllt, die verschiedene Bevölkerungsgruppen in sie gesetzt hatten, wobei sich diese Erwartungen zum Teil auch widersprachen. Insgesamt hat sie Deutschland aber ganz brauchbar durch vier schwierige Jahre gesteuert, insbesondere wenn man an die Probleme in Europa (Griechenland, Großbritannien, Polen, Ungarn) und die Flüchtlingskrise denkt. Manches hätte besser, vieles aber auch deutlich schlechter laufen können. Das wird von den vielen Bürgerinnen und Bürgern auch so gesehen.

Wenn jetzt linksliberale Medienvertreter die Absage der SPD an eine Weiterführung dieser Koalition mehr oder minder euphorisch begrüßen, so frage ich mich, ob sie träumen. Wo soll denn durch die Rolle als Oppositionspartei ein massiver Stimmenzuwachs herkommen? Noch dazu, wo die Opposition von der AfD und den Linken dominiert werden wird. Vielleicht zwei oder drei Prozent von den Linken. Oder glaubt man wirklich, die SPD könnte etwas von dem holen, was CDU und CSU jetzt an FDP und AfD verloren haben?

Bei einem Parlament mit sechs Parteien, und davon ist für die nächste Zeit auszugehen, werden CDU/CSU und SPD zusammen kaum mehr über 55 Prozent hinauskommen. Und das führt direkt zum Begriff "große Koalition": Mit dem jetzigen Ergebnis hätten die beiden Parteien zusammen eine solide, aber keineswegs eine überwältigende Mehrheit; weit von einer Zweidrittelmehrheit entfern. Eine wirkliche Große Koalition wird es in näherer Zukunft nicht mehr geben. Es ist nicht einmal sicher, ob Zweierkoalitionen in Zukunft überhaupt noch möglich sind, etwas, das der politischen Stabilität Deutschlands sicher nicht zuträglich wäre. Es wäre dringend zu wünschen, dass die SPD ihre Haltung noch einmal überdenkt. Prof. Georg Hohlneicher, München

Lob dem Protestwähler

Wir haben es über einer Million deutschen Bürgern zu danken, die sich überwunden haben, um ein überraschendes Ergebnis mit weitreichenden Perspektiven zu produzieren. Es braucht Mut, sich mit einer unsäglichen Chaotentruppe in einen Topf werfen zu lassen, um ein Ergebnis zu ermöglichen, das überfällig, aber nicht erwartbar war. Die AfD hat womöglich noch gar nicht begriffen, was ihr da widerfahren ist. Im Freudenrausch über einen unbegreiflichen Erfolg sollte es ihnen nicht entgehen, dass sie vorgeführt worden sind. Die Wahlanalyse hat aufgezeigt, sie haben etwa 70 Prozent ihrer Stimmen von Bürgern bekommen, die mit ihnen nichts am Hut haben. Sie haben es geschafft, den konservativen Parteien, die alljährlich Krokodilstränen beim Verkünden des Armutsberichts vergießen, die schon lange fällige Klatsche zu verpassen. Wasser predigen und Wein trinken ist ihr Motto für die weniger privilegierten Bürger, denen sie den heuchlerischen Eid, für ihr Wohl bemüht zu sein, geschworen haben.

Die Sensation ist: Es ist möglich, Wähler wachzurütteln, wenn ihre Sorgen und Ängste, in ihnen nachvollziehbarer Weise angegangen werden, wie die hohe Wahlbeteiligung ausweist. Wer, statt die überfällige Korrektur der ungerechten Verteilung in Angriff zu nehmen, stattdessen der Wirtschaft unerreichbare Zeitlimits setzt, Stichwort Energiewende, Elektroautos, und sich wundert, wo der Hase im Pfeffer liegt, täte gut daran abzutreten. Zwei Problemkreise sind besonders schwer in den Griff zu bekommen. Es ist am unteren Ende die Schwarzarbeit, die unter Ausnutzung von Harz IV zunimmt und damit den Unterschied zum Arbeitswilligen verwischt, am oberen Ende die Anhäufung unsinniger Vermögen, die begünstigt werden, mittels Abschreibungen.

Beide Problemzonen wären durch eine langfristig angelegte, mit Augenmaß verfolgte Verlagerung der Besteuerung von Einkommen auf Ausgaben im sozialgerechten Sinne besser zu handhaben. Otto Witter, München

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