Süddeutsche Zeitung

Kunstprojekt:Eine Art Phönix

Der sizilianische Ort Gibellina wurde 1968 von einem Erdbeben verwüstet. Die damaligen Bewohner wagten nach der Katastrophe einen Neuanfang und schufen ein gigantisches Museum unter freiem Himmel.

Von Stefan Ulrich

"Es ist mir selbst peinlich, uns so zu loben", sagt Tanino Bonifacio, "aber was soll ich machen. Die Dinge sind halt so." Und dann legt er los. Gerade einmal 3900 Einwohner habe das sizilianische Landstädtchen Gibellina - und die bedeutendste Sammlung moderner Kunst ganz Süditaliens: 55 Skulpturen und architektonische Monumente in einer Art Freilichtmuseum über den ganzen Ort verteilt. 4000 Bilder, Grafiken und Skulpturen im Museo d'Arte Contemporanea, das nach jahrelanger Restrukturierung in diesem Frühjahr wiedereröffnet wird. Und draußen, in den Hügeln hinter dem Ort, wartet auch noch der Cretto di Burri, "das größte Land-Art-Werk" der Welt.

Bonifacio, Kunstkritiker und Kulturdezernent Gibellinas, wünscht sich jetzt nur noch, dass die Welt diesen Reichtum auch zu schätzen lernt. Dass viele Touristen kommen, damit all die Kunst erhalten werden kann; und damit die Bürgerinnen und Bürger Arbeit finden und bleiben können, statt, wie bisher, in alle Welt auszuwandern.

Es ist ein Experiment, geboren aus Chaos und Elend

"Unsere Stadt ist ein einmaliges Experiment. Und wir wollen es weiterführen", sagt Bonifacio. Ein Experiment, geboren aus Chaos und Elend. In der Nacht auf den 15. Januar 1968 riss ein Grollen die Menschen in den uralten, verwinkelten Bauernorten des Belice-Tals im westlichen Sizilien aus dem Schlaf. Ihre Häuser begannen zu zittern. Schreie gellten durch die Winternacht: "Alle raus! Raus!" Kurz darauf begannen Mauern einzusacken, Dächer herabzustürzen.

Zwölf Sekunden dauerte der Erdstoß, doch das reichte, um das ganze Tal zu verwüsten und 90 000 Menschen obdachlos zu machen. Gibellina traf es besonders schlimm. Mehr als 200 Menschen starben. Die Überlebenden sahen am nächsten Morgen, was von ihrem Heimatort geblieben war: ein Trümmerfeld. Renato Guttuso hielt die apokalyptische Nacht fest in seinem Gemälde "La notte di Gibellina". Es ist nun bald wieder im Museum des Ortes zu sehen.

Erdbeben, Überschwemmungen, Bergstürze - Italien wird oft von Naturkatastrophen heimgesucht. Viele alte Orte im Hinterland, insbesondere im Süden, mussten daher aufgegeben und an sichererer sowie verkehrsgünstigerer Stelle wiederaufgebaut werden. In den Ebenen, am Meer. Der Preis dafür ist hoch. Die alte, über Jahrhunderte gewachsene Identität geht verloren, eine neue lässt sich nicht am Reißbrett planen. So entstanden Schlafstädte, in denen die Menschen moderne Häuser haben und sich dennoch unbehaust fühlen. Krasse Beispiele dafür finden sich etwa an der ionischen Küste Kalabriens.

Die Überlebenden Gibellinas wollten es anders machen. Vor allem ihr damaliger Bürgermeister Ludovico Corrao, ein energischer, durchaus exzentrischer Mann. Er kam auf die Idee, dem neu zu erbauenden Gibellina auch eine ganz neue Identität zu geben: als Stadt der modernen Kunst. "Dream in progress", nannte er sein Vorhaben.

Künstler aus ganz Italien sollten der Reißbrettstadt eine Seele geben

So entstand die Planstadt Gibellina Nuova, im Grundriss einem Schmetterling gleichend, als Freilichtmuseum, gut 15 Kilometer weiter unten im Tal, nahe der Autobahn und der Eisenbahnlinie. Der alte, verwüstete Ort wurde aufgegeben. Corrao rief Künstler aus ganz Italien und dem Ausland dazu auf, dem neuen Ort eine Seele zu geben. Viele kamen. Der Bildhauer Pietro Consagra schuf ein 26 Meter hohes Tor in Form eines Sterns, das seither die Einfahrt nach Gibellina schmückt. Der Architekt Alessandro Mendini entwarf einen Glockenturm aus zwei bunt beflügelten Betonsäulen. Sein Kollege Ludovico Quaroni ließ die Kirche erbauen, einen grandiosen, surreal anmutenden Rundkuppelbau, dessen komplettes Dach allerdings einstürzte, bevor es aus leichterem Material wiederaufgebaut wurde.

An Ideen und Engagement fehlte es also nicht bei der Wiederauferstehung Gibellinas. Dennoch hat sich die neue Seele des Ortes noch nicht wirklich entfaltet. Er wirkt mit seinen für 20 000 Menschen geplanten und daher überdimensionierten Straßen, Plätzen und gleichförmigen Reihenhäusern an manchen Tagen wie eine Geisterstadt inmitten der lichten, weit geschwungenen Hügel, auf denen die Reben des Nero d'Avola und des Grillo gedeihen. Irgendetwas ist nicht so gelaufen, wie es sich Corrao vorgestellt hatte.

Salvatore Sutera kann sagen, was. Der Ort sei von Urbanisten der italienischen Bürokratie in Rom am Reißbrett entworfen und den Bürgern quasi übergestülpt worden, "ohne unsere Geschichte und Tradition zu beachten", sagt der heutige Bürgermeister Gibellinas. Um den Ort erdbebensicher zu machen, sei überdimensioniert in die Fläche gebaut worden. Dabei gingen die Intimität und das Gesellige verloren, das die alten sizilianischen Orte auszeichnet.

Sutera, der zur Zeit des großen Bebens sieben Jahre alt war, kann sich noch gut an das Leben im alten Gibellina erinnern: "Jeder kannte jeden. Wir Kinder waren immer auf der Straße und wuchsen völlig frei auf." Das sei heute anders. Viele vermissten die menschliche Nähe von einst. Dennoch sei es richtig gewesen, die Neustadt als Kunststadt zu erschaffen. Das unterscheide sie von vielen anderen ähnlichen Neugründungen und gebe Gibellina nun die Möglichkeit, aus der Not eine Tugend zu machen. "Unsere Aufgabe ist es, all die Kunstwerke zu erhalten und auch touristisch zu nutzen."

Die Frage ist, wie kann die kleine Gemeinde die großartige Kunst erhalten?

Kunststück. Wie schwer es ist, zeigt der Ort überall. Rissige Straßen, bröckelnder Sichtbeton, immer noch unvollendete Werke wie das Theater an der Piazza Joseph Beuys. Aber wie auch soll eine so kleine Gemeinde mit ihrem bescheidenen Budget so viel Kunst erhalten? Der Bürgermeister, der Kulturdezernent und ihre Mitstreiter begnügen sich nicht damit, die Region Sizilien und den italienischen Staat um Hilfe anzuflehen. Sie versuchen auch, die lokalen Unternehmen einzubinden. Mit Erfolg. Viele beteiligen sich an der Restaurierung der Monumente, etwa der Weinproduzent Cantine Ermes. Die Ergebnisse können sich bereits sehen lassen. So leuchtet ein futuristisches Mosaik Gino Severinis nun wieder in seiner ursprünglichen Intensität.

Besonders stolz ist der Kunstkritiker Bonifacio auf das neu strukturierte Museum. "Es erzählt die Geschichte der modernen Kunst von den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts bis heute, denn wir bekommen immer wieder neue Werke gestiftet. Und diese Kunstwerke sind fast alle hier entstanden oder haben einen direkten Bezug zu uns. Das macht das Museum einmalig." Besonders freut sich Bonifacio darauf, nach der Neueröffnung wieder die Werke Mario Schifanos zeigen zu können, "des Vaters der italienischen Pop-Art": zehn raumgreifende Gemälde, die der Meister Anfang der Achtzigerjahre in Gibellina schuf.

Gibellina will sich künftig besser vermarkten

Nun wollen sie in dem sizilianischen Städtchen zeigen, dass sie sich nicht nur auf Kunst, sondern auch aufs Marketing verstehen. "Gibellina bietet all das auch, was die Toskana bietet", verheißt Bonifacio ohne zu erröten. "Kunst, große Weine, gutes Essen, Kulturfestivals, eine fantastische Landschaft und, ganz in der Nähe, die saubersten Strände Italiens." Zudem sei das Örtchen ideal gelegen, um die archäologischen Stätten von Segesta und Selinunt mit ihren griechischen Tempeln zu besuchen. Auch Palermo sei nicht weit.

Und dann weist Bürgermeister Sutera noch auf eine besonders eigentümliche Sehenswürdigkeit hin - den Cretto di Burri. Die Plätze und Gassen des alten Gibellina, auf denen er einst mit seinen Freunden spielte, sind heute von einem gigantischen Leichentuch bedeckt. Ein Leichentuch, 80 000 Quadratmeter groß, aus 122 weißgrauen, meterdicken Betonplatten, wie von Götterhand hineingeworfen in die Hügel, zwischen Weingärten und Getreidefelder.

Als der aus Umbrien stammende Alberto Burri, berühmt für seine Collagen und Assemblagen aus Säcken, Nägeln oder Holz, 1981 ins neue Gibellina kam, sah er, dass der Ort schon voller Kunstwerke war. "Hier mache ich sicherlich nichts", sagte er und bat, ihm das alte Gibellina zu zeigen. "Das hat mich wirklich ergriffen", sagte er später. "Ich musste fast weinen." Und er dachte sich: "Hier spüre ich, dass ich etwas schaffen kann."

Burri ließ Schutt und Ruinen komprimieren und die bebauten Flächen unter Beton begraben. Zwischen den Platten hielt er Wege und Gassen frei, getreu dem alten Ortsplan von Gibellina. Auf ihnen laufen heute Besucher durch sein Werk. Ameisenklein wirken sie auf dem Leichentuch. Auch ältere Leute aus dem neuen Gibellina zieht es immer wieder hierher. Sie betrachten die Betonplatte, unter der einst ihr Haus stand, auf der Suche nach einer verlorenen Zeit.

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