Süddeutsche Zeitung

Interkonfessioneller Unterricht:Auf der Suche nach mehr Religionstoleranz

Unterricht über unterschiedliche Glaubensrichtungen soll in Hamburg den Blick der Kinder weiten. Doch nicht alle finden das gut. Die Gründe sind verschieden.

"'Religionsunterricht für alle' mit Katholiken" und Kommentar "Glauben lernen mit anderen" vom 29. April:

Toleranz, Frieden, Demokratie

Ethik/Religionskunde, nicht "multireligiöser" Unterricht für alle! In der SZ kommentiert Annette Zoch den Beitritt der katholischen Kirche in den interkonfessionellen, multireligiösen Hamburger Religionsunterricht als bundesweit wegweisend; "gemeinsam Glauben lernen" sei das Gebot der Stunde. Hierzu ist kritisch anzumerken: Ein gemeinsamer, integrierter, wertebildender Unterricht in Ethik und Religionskunde für alle Schüler und Schülerinnen, in dem miteinander, nicht übereinander geredet würde, ist in der Tat ein lohnenswertes Projekt und den Schweiß der Edlen wert. Es könnte der gesellschaftlichen Zersplitterung nicht nur in der Schule entgegenarbeiten und würde nebenbei die Schulorganisation entlasten. In Corona-Zeiten ging es ja notgedrungen, weil die Klassen zusammenbleiben mussten. Die Idee dazu ist übrigens mindestens 100 Jahre alt und in Nachbarländern längst realisiert, während bei uns das sozialdemokratische Projekt der "weltlichen Schule" in Vergessenheit geriet.

Eine weitere Trennung der kooperierenden "Religiösen" von den "Nichtreligiösen" würde jedoch die Versäulung zementieren. Und kann es denn im Ernst ein Ziel der wissenschaftsorientierten öffentlichen Schule sein, "Glauben" zu lernen? In NRW zum Beispiel wird der konfessionsgebundene islamische Religionsunterricht vor allem mit der politischen Extremismusprävention und der "Gefährlichkeit" der Religionen begründet. Gemeinsamer Unterricht über, nicht "in" Religion ja, aber bitte alle zusammen. Um der Toleranz, des Friedens und der Demokratie willen.

Johannes Schwill, Bochum

Grundgesetzwidrig

Natürlich kann es keinen "Religionsunterricht für alle" geben in einer Gesellschaft, in der inzwischen eine Mehrheit gar keiner Religionsgemeinschaft mehr angehört. "Berührungsängste" abzubauen und "Verständnis" in weltanschaulichen Fragen zu fördern, sind wesentliche Ziele eines Ethik-Unterrichts; und diese Ziele sind nicht vereinbar mit dem jeweiligen Alleinvertretungsanspruch, wie ihn die großen Religionsgemeinschaften hegen, wenn sie zum Beispiel von "Heiden" oder "Giaurs" sprechen.

Das Hamburger Vorhaben dürfte sich übrigens als grundgesetzwidrig erweisen. Der Staat muss nämlich auch die negative Religionsfreiheit gewährleisten, das heißt, niemand darf gegen seinen Willen zu einer Teilnahme an religiösen Veranstaltungen welcher Art auch immer gezwungen werden. Allein ein weltanschaulich neutraler Unterricht im Fach Ethik kann diesem Anspruch gerecht werden.

Werner Fuß, München

In Glauben wächst man hinein

Die Verfasserin scheint weder die Lehrpläne, noch die Unterrichtspraxis für den konfessionellen christlichen Religionsunterricht in Bayern zu kennen. Seit Jahrzehnten sind bereits in der Grundschule Themen verpflichtend wie "jüdische und islamische Glaubenstraditionen kennenlernen", dazu sind überkonfessionelle Schulgottesdienste und/oder Schulfeiern für alle Schüler einer Schule selbstverständlich, wobei es inzwischen in vielen Grund- und Mittelschulen dazu auch islamischen Religionsunterricht gibt. Im Sinne des fächerübergreifenden Unterrichts sind je nach aktuellen Themen und Situationen auch Möglichkeiten des gemeinsamen Unterrichts/Feierns, in Absprache verschiedener Fach- und Klassenlehrer, natürlich auch mit dem in jeder Schule angebotenen Ethikunterricht wünschenswert und möglich.

Im Unterricht des sogenannten "Hamburger Modells" stellt sich die Frage, wie weit sachgemäßer Religionsunterricht durch nicht fachlich ausgebildete Lehrkräfte, die einfach von ihren persönlichen religiösen "Prägungen" erzählen, einen Unterricht ersetzen kann, der es sich zum Ziel setzt, Schüler über die Rücksichtnahme auf anders Glaubende hinaus mit den Inhalten ihrer jeweiligen Religion, Religionsgeschichte, Glaubenstraditionen, Festen und Texten der Überlieferungen vertraut zu machen, sowie eine Beziehung zu örtlichen Kirchen oder/und Gemeinden anzubahnen.

Ein wesentliches Element religiöser Bildung fällt zudem beim dargestellten "Hamburger Modell" als Ersatzreligionsunterricht völlig aus: die altersspezifische Differenzierung. Während man es sich als sinnvoll vorstellen könnte, mit Schülern der Mittel- und Oberstufe (in manchen Diasporasituationen gibt es bereits Versuche eines christlichen gemeinsamen Unterrichts) hin und wieder gemeinsame Unterrichtsstunden aller Glaubensrichtungen zu gestalten, so ist das für Kinder bis zur Sekundarstufe pädagogisch inadäquat. Kinder müssen mit altersspezifischen Liedern, Gebeten, Geschichten, Bildern, Festen zuerst in ihrer Familie, dann in Kindergruppen und der Grundschule erfahrungs- und personenbezogen, emotional und im Selbst-tätig-Werden an ihren Glauben, ihre Religion herangeführt werden, nicht im vielfachen Nebeneinander verschiedener Angebote "informiert" werden.

Übrigens "lernt" man Glauben nicht (siehe Überschrift des Kommentars): Man wächst hinein durch Vorbild und Gemeinschaft, Identifikation und Orientierung, und letztlich ist er ein Geschenk.

Helga Müller-Bardorff, Garmisch-Partenkirchen

Schüler unter Religionskontrolle

In der Tat eine Entscheidung mit "bundesweiter Signalwirkung" wie der Hamburger Senator Rabe sagt und die SZ lobend bewertet. Leider aber hat die SZ nicht sorgfältig recherchiert, wenn sie weiter schreibt: "während es in anderen Ländern an staatlichen Schulen konfessionell getrennten Unterricht gibt - und das Pflichtfach Ethik für jene, die keinen konfessionellen Unterricht besuchen wollen -, lernen in Hamburg Kinder aller Glaubensrichtungen und Konfessionslose gemeinsam." Richtig ist, dass Hamburg mit einem im Religionenplural verantworteten Unterricht positives Neuland beschreitet. Falsch ist, dass Schüler bei Nicht-Teilnahme eine "Pflichtalternative Ethik" besuchen müssen. Das gilt nur für die Klassen 7 bis 12/13 bei den religionsmündigen Schülern und Schülerinnen. Sie müssen die Pflichtalternative Philosophie besuchen; die Teilnahmequote ist circa 50 zu 50. Für die Klassen 1 bis 6 weigert sich die Schulbehörde, eine solche Alternative auch nur anzubieten oder auf die Freiwilligkeit des Besuchs eines Religionsunterrichts "für alle" aufmerksam zu machen.

In einer Stadt wie Hamburg, in der deutlich über die Hälfte der Bürger und Bürgerinnen (und damit auch ihrer Kinder) keiner Religion/Konfession angehören, ist es eine Schande, dass alle Schüler und Schülerinnen der Klassen 1 bis 6 faktisch in einen von Religionen inhaltlich bestimmten und durch von ihnen beauftragtes Lehrpersonal erteilten Religionsunterricht gehen müssen.

Wer als religionsfreie Eltern sein Kind abmelden will - und das ist grundgesetzlich zulässig -, muss damit rechnen, dass es sich dann in der Pausenhalle der Schule selbst beschäftigen "darf". Wer will das als Eltern schon, sein Kind öffentlich zu stigmatisieren, wenn es an einem Unterricht "für alle" nicht teilnimmt. Die staatliche Phrase, man mache auch den säkular aufwachsenden Kindern ein Angebot, entlarvt sich, wenn man die jüngst veröffentlichten Lehrpläne anschaut. Die Religionsgemeinschaften sind mit dieser Regel glücklich, ist es doch eine ihrer letzten Zugriffsmöglichkeiten auf eine ganze Schülergeneration.

Gerhard Lein, Hamburg ehem. Schulleiter, ehem. MdHB (SPD)

Wissen statt Glauben

Auch wenn es nur ein Kommentar ist: Ihn mit "Glauben lernen mit anderen" zu überschreiben und damit ein Modell, das "Religionsunterricht für alle" vorsieht, gutzuheißen, ist eigentlich einer Süddeutschen Zeitung unwürdig. In der täglichen SZ-Rubrik Wissen ist nicht von Glauben oder religiöser Sichtweise die Rede, sondern von Erkenntnissen aus wissenschaftlichen Studien, die unter Abwägung der Stärken und Schwächen nach wissenschaftlich anerkannten Grundsätzen gewonnen worden sind. Aufgabe der Schule ist die Vermittlung von Wissen, Können und von Werten auf Basis der Verfassung und der Menschenrechte.

Die ethische, normative und moralische Substanz einer demokratischen Gesellschaft kann nicht auf Basis der Lehren von unterschiedlichen Religionen entwickelt und gestärkt werden.

Ein Modell zu befürworten, das die Mehrheit der Schüler dazu zwingt, sich mit einem Gott zu beschäftigen, an den man zwar glauben kann, dessen Existenz man aber wissenschaftlich nicht beweisen kann, ist das rational und liegt das im Interesse der Schüler?

In Hamburg waren Ende 2020 von 1,8 Millionen Einwohnern 437 622 (Kirchenamt der EKD) und 174 789 (Deutsche Bischofskonferenz) Mitglied dieser beiden Kirchen, also 23,6 und 9,4 Prozent, zusammen 33 Prozent. Hinzu kommen circa 4 bis 5 Prozent Muslime (MLD-Studie 2020) und 2 bis 3 Prozent Andersgläubige. Rund 60 Prozent der Einwohner Hamburgs sind konfessionsfrei. Die Mitgliederzahlen der Kirchen nehmen nach deren eigenen Angaben seit Jahrzehnten kontinuierlich ab. In den letzten Jahren hat sich der Trend sogar weiter verstärkt. Das ist eine Tatsache, die sich nicht durch Schönreden beseitigen lässt.

Ethikunterricht für alle befürworten 72 Prozent der 4030 repräsentativ ausgewählten deutschsprachigen 18- bis 74-Jährigen, die vom Marktforschungsinstitut GfK im März 2022 befragt worden sind. In der Region Nordwest (Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen, Niedersachsen) sind es sogar 79 Prozent (Basis: 649 Befragte). Von den in Hamburg befragten 105 Personen stimmten 76 Prozent dafür, alle Schüler gemeinsam im Fach Ethik zu unterrichten. Die starke Befürwortung eines gemeinsamen Ethikunterrichts beruht offensichtlich auf einer intuitiven Einschätzung dessen, was die Bürger als wichtig für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ansehen. Dahinter steht die durch alltägliche Erfahrungen gewonnene Erkenntnis, dass keine einseitige religiöse Interessenpolitik weiterhilft, sondern nur ein auf gegenseitiges Verständnis bauendes Miteinander.

Ernst-Günther Krause, Unterschleißheim

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Quelle:
SZ vom 27.05.2022
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