Impfprivilegien:Recht, Solidarität und Anstand

Geimpfte, Genesene, Gesunde: Wie lange darf man sie in der Pandemie gleich behandeln? Die Meinungen dazu gehen auseinander. Und für einige wiegt der gesellschaftliche Zusammenhalt schwerer als der Drang nach Erleichterung.

Impfprivilegien: SZ-Illustration: Stefan Dimitrov

SZ-Illustration: Stefan Dimitrov

(Foto: Stefan Dimitrov)

Zu "Geteiltes Leid" vom 12. April, "Der Traum der Geimpften" vom 10./11. April sowie "Es gibt ein Leben danach" und "Abschied von der letzten Sicherheit", beide vom 7. April und "Spahn verspricht Vorteile für Geimpfte" vom 6. April:

Den Alten die Freiheit gönnen

Es wird zwar in Medien, Talkshows etc. stets übers Impfen debattiert, aber was hat der Geimpfte außer dem Schutz vor Ansteckung davon? Er/Sie sollen sich weiter hinterm Mundschutz verstecken, damit ja kein Neid aufkommt wegen Privilegien usw. Einen Impfpass, eine grüne Karte wie in Israel, einen QR-Code gibt es nicht. Man gönnt uns über 80-Jährigen nicht, ein paar lächerliche Wochen wieder früher in den Biergarten, ins Kino, Konzert etc. gehen zu dürfen. Um unsere altersbedingten Bewegungs- und Gesundheitseinschränkungen beneidet man uns mit Sicherheit aber auch nicht. Ich meine, gerade die Geimpften und natürlich auch die Genesenen sollten wieder alles dürfen, wieder ins Restaurant, Museum, Kino, Konzert etc. Damit könnte eine langsame und schrittweise, aber sichere Öffnung gelingen. Auch wirtschaftlich gesehen wäre es für viele besser, wenn sie wieder Einnahmen erzielen könnten.

Manfred Sailer, Bad Feilnbach

Gefahr der Spaltung

Als glücklicherweise schon zweimal Geimpfter kann ich sagen, dass nicht alle mit einem Vakzin ausgestatteten Bürger den wohl von Jens Spahn und dessen Befürwortern insinuierten Traum haben. Was würde die "Befreiung" oder "Privilegierung" der Geimpften denn bedeuten? Bei den gegenwärtigen und noch für Monate zu erwartenden Ständen der Impfung würde die Gesellschaft in extremer, nie da gewesener Weise gespalten in Befreite und Gefesselte, in Privilegierte und Benachteiligte. Es braucht wenig Fantasie zu der Erkenntnis, welch zerstörerische Kraft eine solche Spaltung der Bürgerschaft zu entfalten in der Lage wäre. Sie geht weit über das hinaus, was schon an nichtmedizinischen Folgen der Pandemie thematisiert worden ist.

Der von der SZ zitierte Regensburger Staatsrechtler Thorsten Kingreen sollte seine so forsche wie populistische These von der verfassungsgemäß zwingend geforderten "Befreiung" der Geimpften in diesem Lichte ebenso einer Prüfung unterziehen wie Gesundheitsminister Jens Spahn seine vorschnellen Versprechungen. Zu hoffen bleibt, dass Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek bei den von ihm erfreulich nachdenklich angekündigten Gesprächen mit Fachleuten und dem Ethikrat von einem guten Geist bestrahlt bleibt.

Dr. jur. Hans-Joachim Frieling, München

Intensivstationen aufrüsten

Warum ist Kommentatorin Angelika Slavik in "Es gibt ein Leben danach" so uneingeschränkt dafür, Geimpften mehr Rechte einzuräumen, obwohl gar nicht abschließend bewiesen ist, ob eine Übertragung trotz Impfung möglich ist und wie lange der Impfschutz hält (offenbar sechs Monate). Was machen diejenigen, die sich tatsächlich nicht impfen lassen sollten? Beispiel: Frau schwanger, nicht geimpft. Mann geimpft. Geht er dann alleine abends aus? Warum fordern Journalisten nicht mal deutlich, die Intensivstationen besser auszurüsten? Es war doch jetzt ein Jahr Zeit. Bessere Bezahlung für Pflegekräfte? Dann könnten mehr Leute im Krankenhaus behandelt werden. Warum wird dieser Ansatz komplett ignoriert? Warum?

Gisela Kranz, Oberschleißheim

Grundrechte für alle Gesunden

Das geringste Risiko für eine Virusverbreitung geht bei allem Respekt immer noch von den tatsächlich Gesunden aus, des - selbst bei Einrechnung einer veritablen Dunkelziffer - mit circa 99 Prozent allüberwiegenden Anteils der Bevölkerung. Die Kernaussage kann folglich nur lauten: Gebt den (nachgewiesenermaßen) Gesunden den vertretbaren Teil ihrer Grundrechte zurück. Hier gebe ich Herrn Spahn ausdrücklich recht, der in seiner Aussage exakt diesen Zusammenhang herstellt.

Es kann nicht sein, dass einem Eintrag im Impfpass in Bezug auf die Rückgewährung von Grundrechten eine höhere rechtliche Wirkung zuerkannt wird als einem aktuellen Testergebnis. Sonst wäre zum Beispiel die Rückkehr zum Präsenzunterricht von getesteten Schülern schlicht nicht verantwortbar. Ich bin mir sicher, dass die Gerichte dies ebenfalls so sehen werden.

Es ist unfassbar, dass es über ein Jahr gebraucht hat zu erkennen, dass der wirksamste Infektionsschutz von einem verlässlichen Nachweis der eigenen Gesundheit ausgeht. Hier liegen der Kern des Regierungsversagens und die eigentliche Ursache für die mangelnde Akzeptanz der Corona-Maßnahmen in der Bevölkerung. Man könnte nun einwenden, dass ein Testnachweis leichter gefälscht werden kann als ein Impfpass. Das ist richtig. Aber diejenigen, die Testergebnisse möglicherweise zu ihren Gunsten fälschen, wären im Zweifel auch die, welche ungetestet ihre Infektion versuchen würden geheim zu halten.

Hans-Hermann Gröger, Wunstorf

Was ist mit den Genesenen?

Zu unserer Verwunderung spielen Genesene nach wie vor weder in der öffentlichen Diskussion noch im Ethikrat noch in der Presse eine große Rolle. Im Artikel von Wolfgang Janisch "Abschied von der letzten Sicherheit" wird auf die Situation Geimpfter eingegangen. Mit keinem Wort wird erwähnt, dass es zahlreiche Genesene gibt, die sich seit Monaten klaglos an die Regeln halten, Freiheitsbeschränkungen hinnehmen und "solidarisch" sind. Immerhin sind es nach heutigem Stand mehr als 2,6 Millionen Menschen. Sie haben die Krankheit mehr oder weniger durchlitten und verdienen wohl mindestens ebenso viel Berücksichtigung bei der Rücknahme der Maßnahmen wie die gerade erst vor Kurzem Geimpften, zumal die "natürliche Impfung" einen weitaus höheren Schutz vor Infektionsweitergabe bietet als die artifizielle Impfung.

Doris Graf, Planegg

Warten auf alle Impfwilligen

Wer beim Impfen priorisiert wird und sich dann mit dem Privileg, zu den wenigen schon Geimpften zu gehören - und somit einen höheren Gesundheitsschutz hat -, unter Berufung auf das Grundgesetz noch weitere Vorteile verschaffen will, sollte sich in diesem Grundgesetz auch mal den Artikel 3 genauer anschauen und sich dann überlegen, ob er/sie da nicht zu Unrecht ungleich behandelt werden würde - oder, um es weniger juristisch zu formulieren, auf diese Weise möglicherweise ein höchst unsolidarisches und egoistisches Verhalten an den Tag legen würde.

Wenn ich mit einer Gruppe eine Bergtour mache und an einer gefährlichen Engstelle ankomme, wo einer nach dem anderen durchmuss, warten diejenigen, die man als Erste vorgelassen hat, auf der anderen Seite doch auch, bis auch der/die Letzte die Engstelle passiert hat, oder etwa nicht?

Es ist ganz klar eine Frage des Anstands, dass der, dem ein Vorteil gewährt wird, sich mit dem solidarisch zeigt, der ihm diesen Vorteil gewährt hat. Solange nicht jeder und jede, der/die es will (also ausdrücklich nicht zu den Impfverweigerern oder Impfgegnern gehört), geimpft ist oder zumindest einen Impftermin hat, sollte keiner und keine von den bereits Geimpften über diesen Vorzug hinaus weitere Vorteile gewährt bekommen, vor allem auch vor dem Hintergrund, dass die vielen "Impfvordrängler" für ihr Fehlverhalten dann auch noch mal extra belohnt würden.

Marcus Maximilian Muhr, Ingolstadt

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