Süddeutsche Zeitung

Nachhaltiges Bauen:Paläste aus Schrott

"Earthships" kommen ohne Strom- und Wasseranschluss aus. Das Ziel: möglichst autark leben. Dabei spielen auch Autoreifen und Glasflaschen eine Rolle. Über ein altes Konzept, das auch in Deutschland Nachahmer findet.

Von Christine Mattauch

Sie sehen aus wie Paläste aus "Tausendundeiner Nacht", doch gebaut sind sie aus Müll - Autoreifen, leeren Flaschen, Schrott. Und auch sonst bilden die Gebäude mitten in der Wüste, unweit der Kleinstadt Taos im US-Bundesstaat New Mexico, eine außergewöhnliche Siedlung. Ihre Bewohner sind Selbstversorger, weder ans öffentliche Strom- noch ans Wassernetz angeschlossen. Earthships heißen diese Häuser.

Möglichst autark und umweltfreundlich wohnen - das Ziel wird immer populärer, je mehr der Klimawandel fortschreitet und das Bewusstsein für die Knappheit der Ressourcen wächst. Earthships allerdings gibt es schon lange. Michael Reynolds heißt der Mann, der sie erfunden hat, in den 1970er-Jahren, nach seinem Architekturstudium an der Universität von Cincinnati. Es ging ihm nicht nur um Recycling, sondern auch um Häuser, die sich jeder leisten kann. Was schwieriger ist als gedacht, wie sich später herausstellen sollte. Jedenfalls gibt es Abfall gratis. Und weil die Häuser ihre Bewohner nicht nur mit Energie und Wasser versorgen, sondern auch mit Obst und Gemüse aus eingebauten Treibhäusern, sind auch die Kosten für den Lebensunterhalt gering. "Earthships sind mehr als ein Dach über dem Kopf", sagt Reynolds, "sie versorgen Menschen wie Planeten." Bis heute lebt er selbst in einem seiner Gebäude.

Die Rundum-Versorgung ohne Strom- und Wasseranschluss klappt dank eines ausgeklügelten Zisternensystems, Verwendung von Grau- und Schmutzwasser, Photovoltaik und Windturbinen, der Nutzung von Thermalenergie und einer konsequent energiesparenden Architektur. Sogar eine natürliche Kläranlage gehört zum Konzept. Dabei bieten Earthships durchaus modernen Wohnkomfort, bis hin zu Satellitenfernsehen und Wlan.

Die Häuser aus Wertstoffen selbst zu bauen, ist zeitaufwendig und technisch kompliziert

Reynolds ursprüngliche Absicht war, dass die Leute ihre Earthships selbst bauen. Im Online-Shop seiner Firma Earthship Biotecture gibt es Konstruktionsunterlagen, eine Akademie bietet entsprechende Seminare an. Doch ein Eigenbau ist zeitaufwendig und technisch kompliziert, selbst viele Earthships-Fans trauen sich so ein Projekt nicht zu. Alternativ kann man sich, zumindest in den USA, das Haus von Profis errichten lassen - was allerdings mehrere Hunderttausend Dollar kosten kann - oder ein gebrauchtes Earthship kaufen. Unlängst wechselte in der Siedlung bei Taos das "Happy Castle Earthship" den Besitzer: Baujahr 2004, 150 Quadratmeter, drei Zimmer, Küche, Bad und Gewächshaus. 499 000 Dollar hat der neue Eigentümer dafür gezahlt. Noch zu haben: Das "Truchas Earthship" für 950 000 Dollar. Das bietet neben drei Zimmern, zwei Bädern und einem Greenhouse auch noch ein separates Apartment und 8000 Quadratmeter Land. Viel Geld für ein Haus in der Wüste, selbst wenn man berücksichtigt, dass so gut wie keine Nebenkosten anfallen.

"Ein Earthship ist eben viel komplexer als eine konventionelle Gebäudehülle", sagt Reynolds. Er spricht von seinen Bauten als "Maschinen". Trotzdem fuchst es den Visionär, dass sich sein Plan von der Unterkunft für jedermann nicht erfüllt hat. "Wir suchen nach Methoden, um die Produktion zu skalieren. Wie in der Autoindustrie." Idealerweise sollen die Kunden unter verschiedenen Modellen wählen können. Vorerst aber bleibt das Earthship als Massenphänomen ein Traum - nicht einmal in den USA sind "Off-Grid-Homes" - Gebäude ohne Anschluss an die öffentliche Versorgung - überall erlaubt.

In Deutschland gibt es nur ein einziges Earthship, im baden-württembergischen Kreßberg. Die Gemeinschaft Schloss Tempelhof, eine mit alternativen Wohn- und Lebensformen experimentierende Genossenschaft, errichtete den Bau vor sieben Jahren. Freiwillige aus 17 Ländern halfen, Autoreifen mit Erde zu füllen und Glasflaschen zu bearbeiten. "Die Hoffnung war, dass es als Referenzprojekt dient und Nachahmer findet", erklärt Ralf Müller, der mit der Planung betraut war und heute als freiberuflicher Architekt in Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern arbeitet.

Wie kann man das "Earthship"-Konzept mit den deutschen Bauvorschriften in Einklang bringen?

Tatsächlich war und ist das Interesse groß, nach wie vor erhält Müller Anfragen potenzieller Bauherren. An zwei Hürden scheiterten die Projekte jedoch regelmäßig, sagt er. Die eine sei Geld: Die meisten Interessenten gingen davon aus, dass ein Haus aus Müll besonders günstig sei. Aber "ein Earthship ist kein Billigbau", auch in Deutschland nicht. Selbst wer viele ehrenamtliche Helfer mobilisieren könne, müsse mit Kosten in der Höhe eines konventionellen Einfamilienhauses rechnen. "Und dann klappt es bei den meisten Interessenten mit der Finanzierung nicht."

Die andere Hürde sind die strengen deutschen Bauvorschriften. Ohne ein kreatives Bauamt und politische Rückendeckung sei ein Earthship nicht umzusetzen, meint Müller: "Die Gemeinde muss es wollen." Bei Tempelhof ermöglichte der Bebauungsplan ausdrücklich experimentelles Bauen, "diese Bedingung ist selten gegeben". Selbst dort war eine Realisierung nur möglich, indem das Earthship als Gemeinschaftsraum mit Küche und Bädern ausgewiesen und mit den umliegenden Wohnwagen der Bewohner als zusammenhängendes Gebäude eingestuft wurde. Und natürlich musste das Earthship an die Kanalisation angeschlossen werden.

Trotz aller Schwierigkeiten lässt die Idee auch Müller nicht los. Gerade plant er wieder ein Earthship, diesmal ein zweigeschossiges. Es soll in Nieklitz stehen, 70 Kilometer östlich von Hamburg, wo die Genossenschaft "Wir bauen Zukunft" auf einem zehn Hektar großen Gelände ein alternatives Projekt entwickelt.

Auch anderswo in Europa wurden Earthships gebaut. Zum Beispiel im niederländischen Olst, einer Kleinstadt 50 Kilometer nördlich von Arnheim. 2014 baute die "Vereniging Aardehuis" dort 23 Wohnhäuser und ein Gemeinschaftshaus nach den Grundsätzen von Reynolds. Ein niederländischer Architekt hat das Konzept an Witterungsverhältnisse und Bauvorschriften angepasst. Bis heute sind die Bewohner so stolz auf ihr Projekt, dass sie jeden Monat Besichtigungstouren anbieten.

In Amerika hat sich Reynolds Idee zwar nicht auf breiter Fläche durchgesetzt, doch über die Jahre an Strahlkraft gewonnen, wie die Zahl der Earthships rund um Taos zeigt: Vor zehn Jahren waren es etwa 60, heute sind es mehr als 300. Weltweit dürften inzwischen mehrere Tausend der futuristischen Bauten existieren - Reynolds hatte nicht zuletzt in Entwicklungsländern, in denen Baumaterial für Earthships buchstäblich auf der Straße liegt, für sein Konzept geworben.

Durch die Corona-Pandemie sei das Interesse noch einmal stark gestiegen, sagt er. "Wir merken es an der hohen Zahl von Anfragen und Besuchern sowie an der Tatsache, dass unsere Ferienwohnungen und Akademieplätze ständig ausgebucht sind." Obwohl der 77-Jährige vor einigen Jahren an Krebs erkrankt ist, arbeitet er weiterhin für seine Vision. "Solange ich lebe, treibe ich die Sache voran. Aber die Bewegung wird auch ohne mich weitergehen. Es gibt inzwischen genug Leute, die verstanden haben, worum es hier geht."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5663916
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/ssc
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.