Süddeutsche Zeitung

Häusliche Pflege:Lebensabend daheim? Unerschwinglich

Pflegekräften steht nach einem Urteil zu Recht eine bessere Bezahlung zu, finden Leser. Doch viele Angehörige haben jetzt schon Probleme, häusliche Pflege für Eltern oder Großeltern zu finanzieren. Eine Pflegereform sein dringend nötig.

Zu "Der Preis der Würde" vom 26./27. Juni sowie zu "Häusliche Pflege wird teurer" vom 25. Juni:

Eine echte Pflegereform, bitte

Niemand wird bestreiten, dass die Betreuung von Pflegebedürftigen im eigenen Haushalt nicht zu Dumpingpreisen erfolgen kann. Die Politik hat diese Entwicklung schweigend hingenommen und weiß sehr wohl, dass das ausgezahlte Pflegegeld nicht die Kosten deckt. Es ist nicht nachvollziehbar, dass Heimbewohner höhere Zuschüsse von der Pflegekasse erhalten. Viele Betroffene werden gar nicht in der Lage sein, die Nachzahlungen zu leisten. Solange unser Gemeinwesen ein Sozialstaat zu sein vorgibt, sind Gesetzgeber und Pflegekasse in der Pflicht, Abhilfe zu schaffen und durch eine echte Pflegereform nachhaltige Lösungen zu finden und zu finanzieren.

Rolf Sintram, Lübeck

Lebensabend daheim ist in Gefahr

Ein Schock für bis zu Hunderttausende Pflegebedürftige sowie deren Angehörige. Wie ein "Tsunami" (SZ) bricht dieses Urteil des Bundesarbeitsgerichts über die Planung von weiteren Millionen Rentnern und Pensionisten herein, der ihren Plan, den Lebensabend zu Hause verbringen zu können, zerstört. Das Zünglein der Waage der Justiz neigte sich wieder einmal zu Ungunsten der Betroffenen. Ja, ja, das Recht muss herrschen, wenn auch Millionen darunter leiden.

Zumeist läuft das Zusammenleben der Seniorinnen und Senioren mit den osteuropäischen Pflegekräften harmonisch ab. Die Alten werden meist liebevoll versorgt, die Pflegekräfte verdienen viel mehr als in ihrem Heimatland. Ich gehe davon aus, dass die Mitglieder der Gewerkschaft Verdi deren Zustimmung zu diesem Urteil mitbekommen, das ihr Ausklingen des Lebensabends zu Hause in vielen Fällen unmöglich macht.

Anton Layer, München

Alle Ersparnisse aufgebraucht

Mir fehlt in Artikeln zum Thema eine Erwähnung der Kosten, die den anstellenden Privatpersonen tatsächlich entstehen, natürlich nur, wenn die Hilfskraft aus dem Ausland offiziell angestellt ist. Nur solche Hilfskräfte werden ja auch von einer neuen Regelung betroffen sein!

Ich beschäftigte von Anfang 2015 bis zum Tod meines Mannes im August 2016 über eine seriöse deutsch-polnische Stiftung zwei Pflegekräfte aus Polen, die sich alle zwei Monate abwechselten. Die Betreuerinnen erhielten von mir monatlich einen Nettolohn von 1200 Euro. Zusätzlich entstanden mir aber folgende Kosten: Gesamtversicherungsbeiträge 798 Euro,Lohnsteuer 202 Euro, Ab- beziehungsweise Anreise jeden zweiten Monat 150 Euro, Lohnkontoführung Steuerkanzlei sowie Stiftungsbeitrag je 120 Euro, gesetzliche Unfallversicherung 75 Euro. Auf den Monat umgerechnet entstanden Gesamtkosten von 2370 Euro.

Da unsere Kinder ausgezogen waren, stand den Damen ein Zimmer mit eigenem Bad zur Verfügung. Sie machten zwischen 13 und 16 Uhr eine Pause, waren darüber hinaus aber überwiegend im Haus und standen zur Verfügung, wenn ich Hilfe brauchte. Das war einige Male auch nachts der Fall. Ich hatte nicht den Eindruck, dass sich die Helferinnen überfordert und/oder unterbezahlt fühlten. Übrigens erhielten beide, da offiziell beschäftigt, auf Antrag bei der Familienkasse deutsches Kindergeld, die eine für drei Kinder, die andere für eines - ein gutes Zubrot! Die Pflegeversicherung zahlte bis zum Tod meines Mannes nur 545 Euro nach der damaligen Pflegestufe 2. Unseren Rentnerhaushalt hat das alle Ersparnisse gekostet; mehr Mittel für eine angemessene Pflege könnten wir heute nicht mehr aufbringen.

Dorothea Elschner, Bad Wörishofen

Wir schauen nicht so genau hin

Das Urteil stellt keinen "Tsunami" für alle auf Pflegekräfte angewiesenen Bundesbürger dar, sondern eher die Offenlegung eines Missbrauchs vielfach osteuropäischer Arbeitsmigrantinnen, an dem offensichtlich viele Haushalte als Arbeitgeber beteiligt waren. Bisher sind diese Beschäftigungsverhältnisse - wie in anderen Wirtschaftsbereichen (Schlachthöfe, Paketdienst, etc) auch - wegsehend als normal angesehen worden. Das Lieferkettengesetz ist scheinbar politisch einfacher zu handhaben, da Arbeitsverhältnisse im Ausland betroffen sind. Den Arbeitsmarkt in Deutschland auf ausbeuterische Verhältnisse zu überprüfen, erscheint problematischer, da die Folgen sich unmittelbar im eigenen Lebensraum zeigen.

Also schauen wir nicht so genau hin, sonst stünden Zahlen zu diesem so wichtigen Lebensbereich zur Verfügung. Gerechte Arbeitsbedingungen und Arbeitsentgelte werden bei vielen Dienstleistungen zu höheren Kosten für die Nutznießer dieser Dienstleistungen führen müssen. Bei der gesamtgesellschaftlichen Lösung für den Wunsch, möglichst lange zu Hause gepflegt zu werden, kann es aber nicht um eine Abwälzung der höheren Kosten auf die Pflegekasse gehen. So wie einige Agenturen schon damit beschäftigt sind, neue "Beschäftigungsformen" zu finden, werden in deutschen Familien - unterstützt durch politische Entscheidungen und steuerliche Beratung - Überlegungen angestellt, wie "Omas kleines Häuschen" für künftige Generationen gerettet werden kann und die Angehörigen nicht zu sehr belastet werden. Rechtzeitige Schenkungen und Gestaltung des unterhaltsfreien Jahresbruttoeinkommens sind angesagte Themen. Individuelle Freiheit und Verantwortung sollten jedoch mit Subsidiarität und Solidarität in einem verantwortbaren Verhältnis stehen.

Johannes Lakes, Oberhausen

Menschenunwürdige Politik

Es ist ein mieses, unmenschliches und unsolidarisches Spiel, was Politik wissentlich treibt. Die Notlage osteuropäischer Menschen ausnutzend werden diese in illegaler Praxis in Pflegearbeit rund um die Uhr zu Hungerlöhnen geduldet. Zugleich wachsen die Ängste von Pflegebedürftigen, ihren Familien, die explodierenden Pflegekosten bezahlen zu können. Was ist an dieser Politik gesund, sozial, menschenwürdig? Politik und Wirtschaft behaupten dreist, es sei nicht finanzierbar, die soziale Sicherung ihrer Alten und der Pflegekräfte. Kommt wirklich niemand darauf, dass privatisierte Pflege und Gesundheit, Geschäfte - und Profitmacherei mit der Not und Bedürftigkeit der Menschen nie bezahlbar sein kann, wenn die Privatiers ihre explodierenden Profite und Gewinne gesichert haben wollen. Ihre Profitabilität wächst in gleichem Maße, wie die osteuropäische Pflegekraft für fast nichts arbeitet, die deutschen Pflegekräfte oft sogar um den Mindest- oder Tariflohn betrogen werden und Familien die Pflegekosten nicht bezahlen können. Genau das soll so bleiben und soll die gelobte Marktwirtschaft sein?

Roland Winkler, Aue

Modell wird zusammenbrechen

In dem Bericht zur Situation der häuslichen Pflege nach dem BAG-Urteil wird leider nicht die Ursache beschrieben, die zur weitverbreiteten legalen, halblegalen und illegalen Beschäftigung von Betreuungskräften aus dem Ausland geführt hat. Die wesentliche Ursache liegt in der seit Ende des 19. Jahrhunderts nicht reformierten Grundlage des Pflegesystems, der unentgeltlichen familien- und generationensolidarischen Sorge und Pflege füreinander: Die Vater-Mutter-Kind-Ehe, in der die Mutter erzieht und pflegt, der Vater den Lebensunterhalt verdient, ist nicht mehr vorherrschendes Modell des Zusammenlebens.

Frauen sind hoch qualifiziert ausgebildet, sie wollen und müssen berufstätig sein. Wir leben nicht mehr in Großfamilien am gleichen Ort. Wir leben über den Globus verstreut. Viele Menschen haben keine Kinder mehr. Wie soll unter diesen Rahmenbedingungen die Angehörigenpflege im Bismarck'schen Sinne funktionieren?

Es hat sich ein Markt für oft prekär beschäftigte, ausländische Betreuungskräfte entwickelt. Dass diese nun Anspruch auf Mindestlohn bekommen, ist klar zu befürworten. Aber wer soll das Entgelt wovon bezahlen, und wo sind praktikable Alternativen für die Zukunft der häuslichen Pflege?

Ohne konzertierte politische strukturelle Reformanstrengungen wird "die Pflege", die zu über 80 Prozent von uns Bürgerinnen und Bürgern "so nebenher" unentgeltlich geleistet wird, zusammenbrechen. Gelder gehen nahezu ausschließlich in den professionellen Bereich, den informell Pflegenden winkt Altersarmut. Die 24-Stunden-Betreuung ist eine derzeit unverzichtbare Stütze der Sicherstellung von ambulanter Versorgung meist älterer Menschen. Bricht diese Stütze aus Kostengründen weg, dann bricht die häusliche Versorgung zusammen.

Brigitte Bührlen, Wir! Stiftung pflegender Angehöriger, München

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Quelle:
SZ vom 06.07.2021
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