Süddeutsche Zeitung

Justizirrtum:Wie eine Verschwörungstheorie

Lesezeit: 6 min

Der Fall des Gustl Mollath ist einer der größten Justizskandale in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik. Warum ein gesunder Mann sieben Jahre lang in die Psychiatrie gesperrt wurde - und wie er schließlich freikam.

Von Olaf Przybilla und Uwe Ritzer

Ein Mann sitzt in der forensischen Psychiatrie, zu Unrecht, meint er. Das sagen dort fast alle. Er behauptet, er werde weggesperrt, weil er illegale Geldgeschäfte seiner Frau, einer Bankerin, angeprangert und aufgedeckt habe. Wahnvorstellungen seien das, sagen psychiatrische Gutachter. Der Patient hält sich für ein Opfer von Justiz und Politik. Immer wieder haben sich Gerichte bis hin zum Bundesgerichtshof mit seinem Fall befasst, ebenso wie ein Landtagsausschuss. Doch kein Richter und noch nicht einmal der kritischste Oppositionsabgeordnete fanden etwas auszusetzen am Umgang mit dem Mann. Der Fall des Gustl Ferdinand Mollath erschien wie eine Verschwörungstheorie. Absurd, weil unmöglich in einem Rechtsstaat.

Er sitzt seit sechs Jahren in der forensischen Psychiatrie, als der Süddeutschen Zeitung im Herbst 2012 ein Prüfbericht zugespielt wird. 15 Seiten lang, als "vertraulich" deklariert und seit Jahren unter Verschluss gehalten von der Bank, die diesen "Sonder-Revisionsbericht Nr. 20546" intern erstellt hat: die Hypo-Vereinsbank (HVB), Arbeitgeberin von Mollaths Frau, einer Vermögensverwalterin in der Nürnberger Filiale. Im Zuge von Trennung und Scheidung, die in einen üblen Rosenkrieg ausarteten, hatte Gustl Mollath dem Vorstand der Bank Ende 2002 mehrere Schreiben zukommen lassen, in denen er mutmaßlich illegale Geldgeschäfte seiner Frau am Fiskus vorbei für vermögende HVB-Kunden anprangerte. Sie und andere Mitarbeiter würden deren Geld illegal in die Schweiz schaffen, verbotenen Insiderhandel mit Aktien betreiben und obendrein noch andere ebenso fragwürdige wie zum Teil hochspekulative Anlagegeschäfte tätigen. "Für die letzten zwei Jahre habe ich Berge von Belegen gefunden", schreibt Mollath. Optisch sehen seine Briefe ungewöhnlich aus; die Vorwürfe darin sind eindeutig. Bei der HVB klingeln die Alarmglocken.

Es offenbart sich einer der größten Justizskandale der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik

Sie lässt Mollaths Vorwürfe von ihren hauseigenen Revisoren diskret überprüfen. Nach drei Monaten identifizieren diese ein Netzwerk innerhalb der Nürnberger HVB-Niederlassung, das offenbar über Jahre hinweg unsaubere Millionengeschäfte gemacht hat. Mollaths Anschuldigungen, so das Fazit der Prüfer, seien in Teilbereichen vielleicht etwas diffus, aber: "Alle nachprüfbaren Behauptungen haben sich als zutreffend herausgestellt." Mehr noch: Die Revisoren fanden über Mollaths Vorwürfe hinaus Hinweise auf Beihilfe zur Steuerhinterziehung und Geldwäsche durch HVB-Mitarbeiter. Der Bericht verschwand im Giftschrank der Bank. Und Gustl Mollath wegen seiner angeblich gefährlichen, wahnhaften Vorstellungen in der Psychiatrie.

Der HVB-Bericht ist im Herbst 2012 für die Süddeutsche Zeitung der Link, der aus der Verschwörungstheorie einen Fall und damit eine Berichterstattung nicht nur rechtfertigt, sondern unabdingbar macht. Auch andere Medien, allen voran das SWR-Fernsehmagazin Report Mainz, arbeiten intensiv am Thema. Und was sich in den folgenden Monaten immer klarer offenbart, ist einer der größten Justizskandale in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik. Gustl Mollath entpuppt sich als Opfer gleichgültiger, schludrig und oberflächlich arbeitender Staatsanwälte und Richter. Und von einigen psychiatrischen Sachverständigen, die in Fachwelt und Justiz großes Ansehen genießen, fortan aber den Verdacht nicht mehr abstreifen können, bisweilen allzu fahrig über menschliche Schicksale hinweg zu gutachten. Zum Beispiel, als sie allein auf der Basis von Akten und Schilderungen Dritter Mollath für wahnsinnig und gefährlich erklären, obwohl sie ihn nie selbst gründlich untersucht haben.

Eine Medizinerin, die Mollath nie untersucht hat, schreibt ein Gutachten im Sinne der Ehefrau

Es ist früher Abend am 6. August 2013, als Gustl Mollath als freier Mann die forensische Psychiatrie des Bezirkskrankenhauses in Bayreuth verlässt, im Arm ein Dattel- und ein Orangenbäumchen, das er in den sieben Jahren Zwangsaufenthalt in der forensischen Psychiatrie aufgezogen hat. Seinen Anfang nahm der Fall ein Jahrzehnt zuvor. Gustl Mollath, Jahrgang 1956, und seine Frau führen ein sorgloses Eheleben im eigenen Haus in einem der besseren Viertel Nürnbergs; sie verdient gut bei der Bank, und er geht seiner Leidenschaft nach und repariert Oldtimer, bevorzugt Ferraris. Die Ehe rutscht in eine Krise, und schließlich wird ein Rosenkrieg daraus, bei dem sich beide Seiten nichts schenken. Es kommt zu häuslicher Gewalt. Mollath soll seine Frau geschlagen und gewürgt haben; er widerspricht später, er habe sich nur gegen ihre Schläge gewehrt. Die Frau zeigt ihn an, die Staatsanwaltschaft ermittelt und klagt ihn 2003 an. Sie wirft ihm auch Freiheitsberaubung vor (weil er seine Frau gegen ihren Willen anderthalb Stunden eingesperrt haben soll) und Sachbeschädigung, weil er Autos von Freunden und Bekannten seiner Frau demoliert haben soll. Der Fall landet vor dem Amtsgericht Nürnberg.

Vermutlich wäre der bis dato nicht aktenkundige Mollath unter normalen Umständen schlimmstenfalls zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden. Doch bevor der Prozess beginnt, geht seine Frau zu einer ihr bekannten Psychiaterin und erzählt, wie sich ihr Mann angeblich verhält. Die Medizinerin, die Mollath weder persönlich kennt noch jemals untersucht hat, schreibt auf dieser Basis ein Schmalspurgutachten im Sinne der Ehefrau. Die reicht die Expertise unmittelbar vor der Verhandlung bei Gericht ein. Was rein juristisch für das Gericht die Frage aufwirft, ob Gustl Mollath schuldunfähig ist aufgrund einer womöglich gefährlichen, psychischen Krankheit. Ein Fachgutachten soll das klären; doch Mollath beschleicht die Befürchtung, man wolle ihn für verrückt erklären und wegsperren lassen. Er will sich nicht begutachten lassen und wird deshalb in eine psychiatrische Klinik zwangseingewiesen. Und damit beginnt eine Spirale, aus der sich der eigenwillige und im Umgang durchaus sperrige Mann lange nicht mehr wird befreien können.

Das Urteil enthält eine Fülle sachlicher Fehler

Gutachter erklären Mollath für wahnhaft und gefährlich. Am 8. August 2006 spricht ihn die 7. Strafkammer am Landgericht Nürnberg-Fürth zwar frei. Sie sieht zwar alle ihm zur Last gelegten Vorwürfe als wahr an, weist ihn aber als schuldunfähig, weil psychisch krank und eine Gefahr für die Allgemeinheit, in die forensische Psychiatrie ein. Auf unbestimmte Zeit. Der Prozess ist fragwürdig; es wird von der Richterbank aus viel auf den Angeklagten eingebrüllt, der sich zweifellos ungeschickt verhält. Aber muss der Rechtsstaat nicht auch bei unbequemen Menschen funktionieren?

Als Skandal entpuppt sich das schriftliche Urteil. Es enthält eine Fülle sachlicher Fehler, von Zahlendrehern bis zur detaillierten, aber falschen Schilderung von Mollaths angeblicher Verhaftung. Tatsächlich hatte er sich der Polizei gestellt, an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit als im Urteil beschrieben. Seine Schilderungen von illegalen Geldgeschäften seiner Frau und anderer bei der HVB werden als Beleg für seinen Wahn gewertet und deshalb nie wirklich überprüft. Die Staatsanwaltschaft ist desinteressiert; vieles verjährt im Lauf der Zeit.

Gustl Mollath landet in der forensischen Psychiatrie. Er weigert sich bis zur Freilassung, Psychopharmaka zu schlucken; schließlich sei er nicht krank, sagt er. Das wird ihm als Renitenz ausgelegt, und wer derart therapieunwillig sei, müsse eben noch länger in der Klinik eingesperrt bleiben, urteilen Jahr für Jahr die für die Prüfung der Unterbringung zuständigen Strafvollstreckungskammern. Wäre es Mollath nicht gelungen, 2011 ein heimlich aufgenommenes Video aus der Klinik schmuggeln zu lassen, in dem er seinen Fall erzählt, um Unterstützer zu finden, säße er womöglich heute noch dort. Doch auch so dauert sein Weg in die Freiheit noch lange. Die Justiz zeigt sich unwillig, den Fall zu überprüfen - trotz immer neuer Erkenntnisse über Fehler und Versäumnisse, trotz des geheim gehaltenen HVB-Gutachtens, das den Hauptvorwurf zertrümmert, dessentwegen Mollath in der Psychiatrie sitzt: Seine Schwarzgeldvorwürfe gegen seine Ex-Frau waren keineswegs wahnhaft, sondern in wesentlichen Teilen wahr. Auch die bayerische Justizministerin Beate Merk zeigt sich unbeeindruckt, obwohl der politische Druck wächst, den Fall überprüfen zu lassen.

Ein Hamburger Rechtsanwalt verhilft Mollath zur Freiheit

Im Lauf der Zeit entpuppen sich auch die Sachverständigengutachten, in denen Mollath gefährliche Wahnhaftigkeit attestiert wird, als fragwürdig. Die Darstellung zum Beispiel, Mollath habe eine Untersuchung verweigert, erweist sich als gewagt. Tatsächlich hatte er eingewilligt, jedoch unter der Bedingung, den Termin für das Gespräch mit dem psychiatrischen Gutachter einige Tage vorher zu erfahren und seine Krankenakte vorher lesen zu dürfen. Beides wurde ihm zugesagt, beides aber nicht eingehalten. Der Gutachter erschien unangemeldet, Mollath fühlte sich überrumpelt, hinters Licht geführt und weigerte sich, von jetzt auf gleich mit ihm zu sprechen. Was ihm zum Nachteil ausgelegt wurde in einem Gutachten, das rein auf Aktenbasis entstand, ohne vorherige Untersuchung des Patienten.

Es ist der Hamburger Rechtsanwalt Gerhard Strate, ein anerkannter Spezialist für komplexe Wiederaufnahmeverfahren, der Gustl Mollath zur Freiheit verhilft. Der Strafrechtler kommt mit dem Fall in Berührung, als die Landtagsfraktion der Freien Wähler (FW) ihn um ein juristisches Gutachten dazu bittet. Denn je länger die Causa Mollath Medien und Öffentlichkeit empört, desto größer wird auch der parlamentarische Aufklärungsdruck. Die FW setzen im Landtag 2013 einen Untersuchungsausschuss zum Fall Mollath durch. Parallel kommen immer mehr Ungereimtheiten ans Licht, die Zweifel an einem fairen, unvoreingenommenen Gerichtsverfahren nähren. Ein an Mollaths Verurteilung 2006 beteiligter Schöffe bekennt sogar öffentlich Reue.

Dennoch lehnt das Landgericht Regensburg im Juli 2013 ein Wiederaufnahmeverfahren ab, was Anwalt Strate scharf kritisiert: "Das hat mit Wahrheitsfindung nichts zu tun, hier geht es lediglich um die Selbstverteidigung der Justiz." Das übergeordnete Oberlandesgericht Nürnberg kassiert in nächster Instanz den Beschluss und ordnet am 6. August 2013 ein Wiederaufnahmeverfahren an. Mollath kommt noch am selben Tag frei. Das Wiederaufnahmeverfahren beginnt am 7. Juli 2014 und endet nach 16 Verhandlungstagen im August 2014 mit einem rechtskräftigen Freispruch. Gustl Mollath erstreitet später mit 600000 Euro die höchsten Haftentschädigungen, die der Freistaat Bayern je bezahlt hat. Er lebt heute in Westdeutschland, seine Ex-Frau ist gestorben.

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