Süddeutsche Zeitung

Tag des Grundgesetzes:Mal Motor, mal Bremser

Gleichberechtigung, Abtreibung, Pressefreiheit: Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner langen Geschichte zahlreiche wegweisende Urteile getroffen. Wie sie bis heute in die Gesellschaft hineinwirken.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Wer die Geschichte des Bundesverfassungsgerichts erzählt, der kann dies anhand einer - je nach Gusto mehr oder minder langen - Reihe von Leuchtturmurteilen tun. Da fällt dann meist der Name Erich Lüth, der ein aufrechter Hamburger Senatsdirektor war und dem der Mund verboten werden sollte, als er zum Boykott eines Films aufrief, der von einem einstigen Nazi-Propagandaregisseur gedreht worden war. Er gewann 1958 in Karlsruhe, und weit über sein Anliegen hinaus wurde sein Fall zum Grundsatzurteil, das die Grundrechte in eine ganz neue Dimension beförderte, als umfassenden Wertmaßstab für eine ganze Gesellschaft.

Oder es wird der Begriff "Volkszählung" erwähnt, der für ein Urteil von 1983 steht, vor allem aber für die Innovationskraft des Bundesverfassungsgerichts. Es schuf damals das Recht auf "informationelle Selbstbestimmung" und importierte damit den Datenschutz ins Grundgesetz - ein Grundrecht also, von dem die Autoren des Grundgesetz 1949 noch nichts ahnten.

Vielleicht wird auch das "Deutschland-Fernsehen" erwähnt, das war das Projekt des damaligen Kanzlers Adenauer, einen regierungsfreundlichen Sender zu installieren. Das Gericht zerschlug den Plan 1961, weil Rundfunk "staatsfern" zu sein habe. Und legte zugleich den Grundstein für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, den es bis heute mit erstaunlicher Beharrlichkeit verteidigt.

Aber schon diese kurze Reihe zeigt: In Wahrheit gibt es viele Geschichten zu erzählen, die unterschiedlichen Pfaden folgen. Mal sind es kurze, mal sehr lange Strecken, gerade oder gewunden. Manche enden in einer Sackgasse.

"Männer und Frauen sind gleichberechtigt" - das war ein langer Weg

Einen besonders langen und immer ereignisreichen Weg ist beispielsweise das Familienrecht gegangen. Das beginnt damit, dass das Gericht den Satz "Männer und Frauen sind gleichberechtigt", der eigentlich von Beginn an im Grundgesetz stand, erst einmal mit Leben füllen musste. Denn in den patriarchalisch geprägten Paragrafen der 1950er-Jahre hatte der Mann das Sagen in der Familie, zum Beispiel durch ein Letztentscheidungsrecht in der Erziehung. Das Bundesverfassungsgericht indes kippte diesen "Stichentscheid" im Jahr 1959, das war ein erster Schritt zu gleichen Rechten.

Auch die Rechte der Kinder mussten erst nach und nach gerichtlich durchgesetzt werden, etwa mit einer Entscheidung von 1969 zur Gleichberechtigung "unehelicher" Kinder. Oder, 20 Jahre später, mit einem Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung, wenn die Vaterschaft unklar war. Gerade in den Urteilen zum Thema Familie spiegelte sich, wie sich die Anschauungen in der Gesellschaft wandelten. 2002 akzeptierte das Gericht - das 1957, ein Tiefpunkt, noch die Verfolgung Homosexueller gebilligt hatte - die "eingetragene Lebenspartnerschaft". Es legte mit weiteren Entscheidungen nach, zuletzt 2013 zur Adoption durch gleichgeschlechtliche Partner. Der Politik blieb nur noch, den letzten Schritt zu tun: 2017 wurde die "Ehe für alle" eingeführt.

Der Abtreibungskompromiss: Hier dürfte das letzte Wort noch nicht gesprochen sein

In einer anderen Frage - da geht es ebenfalls um Männer, vor allem aber Frauen und Kinder - war das Bundesverfassungsgericht nicht der Motor, sondern der Bremser. In den 70er-Jahren hatte eine sozial-liberale Koalition ein liberales Abtreibungsrecht geschaffen, doch 1975 erklärte das Karlsruher Gericht den neuen Paragrafen für nichtig, gegen Kritik nicht nur aus der Gesellschaft, sondern auch aus dem eigenen Senat. Eine Richterin verfasste eine fulminante abweichende Meinung. 18 Jahre später dann der zweite Karlsruher Versuch in Sachen Abtreibung. Immerhin rang sich das Gericht zu einem Kompromiss durch, wonach ein Schwangerschaftsabbruch nach vorheriger Beratung "rechtswidrig, aber straffrei" sei. Das hat den gesellschaftlichen Konflikt zwar befriedet. Aber dass zum "Schutz des ungeborenen Lebens" bis heute das scharfe Schwert des Strafrechts geschwungen wird, lässt vermuten, dass dies nicht das letzte Wort aus Karlsruhe bleiben wird.

Überhaupt waren es mitunter nur halbe Siege, die der Fortschritt in Karlsruhe errungen hat. Das berühmte Spiegel-Urteil von 1966 zum Beispiel, juristischer Abschluss einer Affäre, die die junge Bundesrepublik erschüttert hat. Nach einem kritischen Artikel über den Zustand der Bundeswehr wurden Spiegel-Redakteure wegen angeblichen Landesverrats verhaftet. Herausgeber Rudolf Augstein verbrachte 103 Tage in Haft. Das Bundesverfassungsgericht schrieb zwar mit großem Pathos eine Hymne auf die Pressefreiheit. Aber ein gespaltener Senat konnte sich nicht dazu durchringen, die staatliche Repression gegen das Magazin zu verurteilen. Auf lange Sicht blieb gleichwohl die Pressefreiheit der Gewinner.

Mit Europa hat das Gericht eine ganz eigene Geschichte. Da geht es um Souveränität und Grundrechte und darum, ob sich das deutsche Verfassungssystem allmählich im großen europäischen Kontext aufzulösen beginnt wie Zucker im Kaffee. Das Bundesverfassungsgericht hat hier fast immer auf Verteidigung gespielt, im Maastricht-Urteil von 1993 ebenso wie im Lissabon-Urteil von 2009. Darauf folgte eine in seiner Dramatik anschwellende Serie von Urteilen rund um Finanzkrise und Europäische Zentralbank, ein Streit ums letzte Wort zwischen Karlsruhe und dem Europäischen Gerichtshof. Im Mai 2020 sprach der Zweite Senat des Gerichts dem EuGH dieses letzte Wort ab. Das war eine beispiellose Eskalation.

Und doch nicht das Ende der Geschichte. Denn kurz zuvor hatte der Erste Senat einen ganz anderen Kurs eingeschlagen. Bei der Auslegung der Grundrechte, die es in Deutschland wie Europa gibt, setzt er auf Kooperation mit dem EuGH und nicht auf Konfrontation wie der Zweite Senat. Ganz so, als sei das Gericht in zwei Richtungen zugleich unterwegs.

Eine wichtige Rolle spielt das Gericht bei der Verteidigung der Minderheiten und der sozial Schwachen. Wie lange hier die Fäden sind, die es durch die eigene Geschichte spinnt, zeigt das Beispiel Strafvollzug. 1977 hat das Gericht im Lebenslang-Urteil einen Anspruch Strafgefangener auf Resozialisierung formuliert, also auf Wiedereingliederung in die Gesellschaft. 1998 hat es hinzugefügt, dass dieser Gedanke auch bei der Entlohnung arbeitender Strafgefangener eine Rolle spielen muss. Kein Hungerlohn, heißt das. Und kürzlich hat das Gericht noch einmal darüber verhandelt, ob die Vergütung für Strafgefangene im Jahr 2022 immer noch zu niedrig ist. Das Urteil folgt in einigen Monaten.

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