75 Jahre BundesrepublikWessen Grundgesetz?

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Karin Mihm
Karin Mihm (Foto: Karin Mihm)

Seit 75 Jahren gilt die Verfassung der Bundesrepublik. Auch für viele Leserinnen und Leser der SZ ist das ein Grund zur Freude, wenngleich auch viele fragen, wen das Grundgesetz eigentlich repräsentiert.

"Ein Grund zum Feiern", "DNA der Demokratie", "Mutter der Republik" vom 18. Mai:

Wo sind die Ost-Erfahrungen?

Mit großem Interesse las ich Ihre vielfältige Hommage an das Grundgesetz und seine Geschichte. Als Westsozialisierte seit 19 Jahren in Brandenburg lebend und derzeit unter anderem in Bürgerdialogen mit der Aufarbeitung der Wende- und Nachwendezeit beschäftigt, erwartete ich einen authentischen Beitrag aus den neuen Bundesländern. Der Osten kommt zwar sporadisch vor (am schönsten im Beitrag von Kurt Kister über die BBR, die Bundesbeitritts-Republik), aber einen Artikel eines Ost-Journalisten zum Thema Grundgesetz und die speziellen Erfahrungen vor und nach der Wende suchte ich vergeblich.

Dabei bin ich sicher, dass es über die Ost-Erfahrungen mit der "Übernahme" des Grundgesetzes sehr viel zu berichten gäbe, zumal es ja auch einen Ost-Vorschlag für eine gemeinsame Verfassung gab. 35 Jahre nach dem Mauerfall ist die Zeit reif, reflektierend und wertend zurückzuschauen. Schade, dass Sie diese Chance nicht nutzten! Wir wissen alle, welche verheerenden politischen Folgen solche Versäumnisse haben können, denn sie sind bekanntlich Wasser auf die Mühlen der Rechtsradikalen.

Ingelor Schwarz, Bad Belzig

Sensibilität im Osten

Die Beiträge zu 75 Jahre Grundgesetz lassen fast alle den Tatbestand vermissen, dass es mit dem 3. Oktober 1990 einen "erzwungenen" Beitritt und keine Fusion zwischen der BRD und der DDR gegeben hat. Ihre Beiträge tun so, als ob das alles keine Rolle spielt und nicht stattgefunden hat. Millionen Ostdeutsche feiern nicht 75 Jahre Grundgesetz der Alt-BRD. Dazu zählen auch viele Ihrer ostdeutschen Leser.

Es wird weder auf die Notwendigkeit einer neuen Verfassung noch auf die Notwendigkeit einer neuen Nationalhymne (Kinderhymne von Brecht statt dieser unsäglichen, belasteten Rumpfhymne) eingegangen. Dass wir Ostdeutsche hier sehr sensibel reagieren, scheint infolge der Arroganz der Redaktion gar nicht bemerkt worden zu sein. Einzig Heribert Prantl hat die nötige Sensibilität und den gesellschaftlichen Scharfblick, um diesen wunden Punkt zu wissen.

Winfried Scholz, Berlin

Manifest für den Frieden?

Schön, dass die DNA der Demokratie in dieser Sonderedition zum 75. Jahrestag des Grundgesetzes wenigstens im Druck trotz Streik in der Druckerei als Erbgut erhalten bleibt. Danke Süddeutsche! Schade nur, dass das "wuchtige Manifest auch für den Frieden" sich im Laufe der Zeit mit Schaffung der Bundeswehr, Nato-Beitritt, Notstandsgesetzgebung und "Kriegstüchtigkeit" geschmückt hat. Aber immerhin, die "großen Grundrechte" von unantastbarer Menschenwürde, Glaubens-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit sind ihm geblieben und lassen sich im Geist der Pfingstbotschaft noch immer gut in alle Welt hinaustragen. Auch wenn nicht alle Geburtstagsgäste sich vorbehaltlos - noch oder auch noch nicht - am Geburtstagstisch zu Hause fühlen.

Gabi Baderschneider, Sinzing

Problem Berufsbeamtentum

Die alliierte Aufsicht 1949 über die Vorlage eines Grundgesetzes hatte unbedingte Einwände gegen den Fortbestand undemokratischer Grundsätze von Staat und Verwaltung gemäß Beamtengesetz 1937. Mit Ratifizieren der Tromsö-Konvention des Europarates 2009 würde das hergebrachte Amtsgeheimnis in Artikel 33 Absatz 5 angreifbar werden. Ist das der Grund, aus dem heraus sich Deutschland weigert das Menschen- und Völkerrecht der Informationsfreiheit zu ratifizieren?

Andreas Zoeltner, Heidelberg

Wenig Eile bei der Durchsetzung

Mit welchen Schwierigkeiten die "Mütter des Grundgesetzes" in der damaligen männerdominierten Gesellschaft zu kämpfen hatten, kann man sich heute kaum noch vorstellen. Denn auch als die Gleichberechtigung dann auf dem Gesetzespapier stand, da hatte man es mit der Durchsetzung nicht gar so eilig. Nach wie vor galt: Der Mann verdient das Geld, die Frau ist für Haushalt und Familie da. Bis in die Siebzigerjahre durfte eine Frau ohne die Zustimmung des Mannes keine bezahlte Arbeit aufnehmen. Der Mann konnte ihr Arbeitsverhältnis bis 1958 jederzeit kündigen, nicht einmal ein eigenes Konto - man glaubt es nicht - durfte sie haben, das Geld, das sie verdiente, floss auf das Konto des Ehemannes.

Der Koblenzer CDU-Abgeordnete und spätere Bundesjustizminister Karl Weber hatte es 1957 in einer Rede vor dem Bundestag so auf den Punkt gebracht: In der Ehe gebe es ein "Zweier-Problem: Man kann ja doch zu einer Entscheidung nicht kommen, wenn sich zwei gleichberechtigt gegenüberstehen. (...) Weshalb muss und soll der Mann diese Entscheidung treffen? Die Begründung entnehmen wir aus der ganzen Entwicklung seit Jahrhunderten." Und in diesen Jahrhunderten war man noch lange zu Hause.

Dr. Eberhard Wildenhahn, Potsdam

Benachteiligt wegen Behinderung

Nicht für alle Menschen im Land ist dieser 75. Geburtstag ein Grund zum Freuen und Feiern. Nicht, solange es 365 Tage im Jahr gibt, an denen viele deutsche Bürger/Bürgerinnen das Grundgesetz nicht als helfend und (be-)schützend erleben, wie es einst vor 75 Jahren gedacht und niedergeschrieben wurde. Zum Beispiel in Artikel 3: "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden."

Zu vielen Menschen im Land ist die Wichtigkeit und Bedeutung des Grundgesetzes gar nicht bekannt. Daher gibt es auch zu viele grundgesetzlahme, demokratievergessene Tage im Jahr! Unter anderem beispielsweise als Mieter/Mieterin im sozialen Wohnungsbau, als Mobilitätseingeschränkte im Stadtverkehr oder arbeitswillige Erwerbsfähige auf dem Arbeitsmarkt.

Und zu viele Benachteiligungen in Bildungsbereichen als Eltern behinderter Kinder oder als pflegender Angehöriger im häuslichen Umfeld. Benachteiligungen auch als Rat-/Hilfesuchender bei Behörden/Ämtern, in Sozial- und Gesundheitsbereichen. Auch als Patienten/Patientinnen in Arzt- und Facharztpraxen und den allermeisten Kliniken. Und zudem in sehr vielen Freizeit- und Kulturbetrieben (von Ausstellung über Disco bis Kino, Theater, Zoo).

Wir Deutschen sind durchaus lernfähig, könn(t)en auch anders! Doch unsere Verfassung ist nicht zeitgemäß gealtert, nicht fit genug für die neuen Herausforderungen und gehört daher auf den Prüfstand!

Annette Gümbel-Rohrbach, München

Feiern in der Berliner Blase

Das Grundgesetz wird 75 Jahre alt, und das wird kräftig mit einem Demokratiefest gefeiert. Getrübt wird die Feierstimmung jedoch durch die mahnenden Worte des Bundespräsidenten, die Demokratie in Deutschland gerate unter Druck, ja wäre sogar durch Gewalt in Gefahr. Um all jenem etwas entgegenzuwirken, sollen die Feierlichkeiten zu 75 Jahren Grundgesetz ein Ort der Begegnung zwischen Politik und Gesellschaft werden - allerdings anscheinend nur in Berlin.

Was genau wurde sich dabei gedacht, einen solchen Ort der Begegnung zu schaffen, und ihn dann so anzulegen, dass er effektiv nur die politische Blase in Berlin bedient? Mal ganz davon abgesehen, dass die Begegnung zwischen Gesellschaft und Politik nur unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen stattfinden soll, ist anscheinend der Plan, dass der Bürger mit Gesprächsbedarf zwingend nach Berlin pilgern muss oder sonst faktisch ausgeschlossen wird. Wäre es im Sinne der Mahnungen und Forderungen des Bundespräsidenten nicht sinnvoller gewesen, die Feierlichkeiten und den politischen Dialog mit den Bürgern ins Land hinauszutragen, anstatt sich in Berlin zu verbarrikadieren?

Jörn Lißner, Dresden

Wie die Bibel

Das Grundgesetz ist zwar einige Jährchen älter als ich, aber es wirkt immer noch erstaunlich frisch. Hie und da gab es ein paar kleinere Änderungen daran, einige Kleinigkeiten wurden an die heutigen Lebensumstände angepasst. Für mich ist das Grundgesetz auch so etwas, wie es die Bibel ist, ein Buch der Bücher, besser im Falle des Grundgesetzes ein Büchleinbuch der Büchleinbücher!

Unsere Volksvertreter feiern nun auf Teufel komm raus feste unser Grundgesetz und bleiben, wie nicht anders von mir erwartet, bei diesem Akt der Selbstbeweihräucherung weitestgehend unter sich. Eigentlich sollten wir uns über 75 Jahre Grundgesetz riesig freuen; ich werde mich auch riesig freuen.

Klaus Jaworek, Büchenbach

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