Süddeutsche Zeitung

Gesundheitswesen:Woran die Digitalisierung in Arztpraxen krankt

Psychotherapeuten und Doktoren klagen über massiven Mehraufwand und hohe Kosten. Abgesehen davon laufe das System nicht reibungslos und sei nicht sicher gegen Hackerangriffe.

"Schlecht vernetzt" vom 13. Juni:

Massiver Kostenanstieg

Mit großem Interesse habe ich als Psychotherapeut den Artikel zur Einführung der Telematik-Infrastruktur (TI) im Gesundheitswesen gelesen. Am Ende war ich enttäuscht, weil nicht in der Tiefe erforscht wurde, warum dies in Deutschland nicht klappt. Zitiert wurde ein Allgemeinmediziner, der zu einer absoluten Minderheit gehört, die bereits das E-Rezept eingeführt hat. Die große Mehrheit der Ärzte und Psychotherapeutinnen steht der TI skeptisch bis ablehnend gegenüber. Und das ist gar nicht so schwer zu verstehen.

Die TI wurde zwangsweise eingeführt, ohne dass Psychotherapeuten, Ärzte und Ärztinnen Kontrolle über die jeweiligen Schritte und die dabei entstehenden Kosten hatten. 100-prozentige Kostenübernahme durch die Krankenkassen war angekündigt, was zu einem Teil in Bezug auf die Hardware und die seither benötigte Software-Updates auch stimmt. Die Arbeitszeit, die die Leistungserbringer dafür aufwenden mussten, wurde aber zu keinem Zeitpunkt vergütet.

Wer nicht selbst ein EDV-Freak ist, kann auch ohne die (stundenweise) Anstellung eines EDV-Spezialisten keine Praxis mehr innerhalb der Kassenärztlichen Vereinigung betreiben. Diese Kosten, die ebenfalls durch die TI massiv gestiegen sind, werden ebenfalls nicht vergütet.

Und noch einen Punkt möchte ich nennen, den die pauschalen Befürworter der Digitalisierung im Gesundheitswesen meiner Einschätzung nach verkennen. Welcher Patient möchte gerne, dass seine intimen Daten, wie sie zum Beispiel bei uns Psychotherapeuten anfallen, im Netz kursieren?

Aber genau das wird passieren, wenn wir in einem der nächsten Schritte der TI gezwungen werden, unsere Sitzungsprotokolle ins System einzugeben, auf die dann die KV und die Krankenkassen zurückgreifen können. Oder Hacker.

Der Chaos Computer Club hat gleich nach Einführung der TI deren Schwachstellen aufgezeigt. Die deutschlandweit eingeführte milliardenteure Hardware wird deshalb schon nach wenigen Jahren zum Wertstoffhof wandern und durch ein neues Verschlüsselungssystem ersetzt.

Heribert Unland, Regensburg, Diplom-Psychotherapeut

Die Ärzte machen das schon

Der Artikel schildert den unbefriedigenden Stand der Digitalisierung im Medizinwesen an Hand einiger Einzelaspekte. Das Bild bleibt aber unvollständig. Oft scheint es, als seien besonders die Mediziner die Blockierer. Als pensionierter Hausarzt kann ich das aus meiner Sicht schildern.

Seit vielen Jahren werden die Praxen belastet mit immer neuen Vorgaben, Vorschriften und Sanktionen, die den routinierten Arbeitsablauf stören. Viele Planungen sind nicht zu Ende gedacht, ein Nutzen ist nicht erkennbar. Kein Wunder, dass die Begeisterung gering ist. Dabei sind praktisch alle Praxen vollständig digital organisiert. Viele würden eine funktionierende Vernetzung im Gesundheitswesen sehr begrüßen.

Am Anfang der Digitalisierung standen aber nicht die Interessen der Ärzte, sondern die der KVen und der Kassen, die Verwaltung zu vereinfachen und Informationen zu gewinnen. Früh wurde die Gesundheitskarte mit hohen Erwartungen befrachtet, aber schlecht gemacht und schlecht kommuniziert. Sie war bald technisch überholt. Die Gematik sollte alle Beteiligten an einen Tisch bringen. Wenn aber die Interessen gegeneinander liefen, konnten die Beteiligten sich gegenseitig blockieren. Erst Jens Spahn hat seinem Ministerium eine Mehrheit von 51 Prozent verschafft. Damit konnte er Verordnungen leichter durchsetzen. Die Industrie wurde oft durch zu knappe Zeitvorgaben überfordert, unausgereifte Produkte waren die Folge. Immer noch werden Arztpraxen mit Vorschriften und Strafandrohungen überhäuft, statt sie vorzubereiten. Exemplarisch ist dafür die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheingung. "Schluss mit der Zettelwirtschaft" klingt gut. Am Anfang standen technische Probleme, abhängig vom EDV-Anbieter. Nur die Kassen erhalten aktuell ihren Teil elektronisch. Für Arbeitgeber und Patienten muss ausgedruckt werden. Das macht mehr Arbeit als bisher und hat keinerlei Nutzen für die Praxen. Bald soll das E-Rezept kommen: ab 1. September freiwillig, ab 1.Februar 2023 verpflichtend für alle. Erprobt sein werden bis dahin 30 000 Rezepte - so viele gehen vielerorts jeden Tag raus.Mit viel Ärger, Zeitaufwand und Stau in den Praxen während der Umstellung ist zu rechnen. Wer will, bekommt sein Rezept ausgedruckt. Wo ist der Vorteil? Wer zahlt für die Arbeit?

Große Probleme bereitet dabei der vollkommen zersplitterte Markt an Praxisverwaltungssystemen (PVS). Die Konkurrenz ist groß, das Interesse an Zusammenarbeit gering. Erst jetzt wird eine einheitliche Plattform zum Informationsaustausch eingeführt (KIM - Kommunikation im Medizinwesen), über die alle miteinander kommunizieren sollen. Im Moment sind das nur die Praxen, nicht die Kliniken, nicht der Pflegebereich. Damit gibt es in den nächsten Jahren noch viele Systembrüche, die die routinierten Abläufe stören. Die digitale Information, der digitale Datenaustausch könnte vieles einfacher und schneller machen. Stattdessen entsteht seit Jahren Zusatzarbeit, die die Versorgung von Patienten mehr behindert als erleichtert. Immerhin hat die Gematik begonnen, sich mit Online-Seminaren an die Ärzte zu wenden - ein später, aber wichtiger Schritt.

Dr. Friedrich-Karl Schmidt, Weinheim, Arzt für Allgemeinmedizin

Sicher ist das nicht

Ärzte stehen nicht hinter der Digitalisierung, weil sie seit 2018 gezwungenermaßen an die Telematik-Infrastruktur angeschlossen wurden. Bei Verweigerung wird Honorar abgezogen. Seit diesen vier Jahren gab es keinerlei Nutzen, nur erheblich Mehraufwand von Kosten und Arbeitszeit.

Die zentrale Speicherung der lediglich "pseudonymisierten" Patientendaten auf Servern privater Firmen wie IBM ist alles andere als sicher. Professor Ulrich Kelber, Bundesdatenschutzbeauftragter, im Deutschen Ärzteblatt vom 27. Mai: "Dass solche Datenbanken Begehrlichkeiten wecken und die Rechte der Patientinnen und Patienten gefährden, wird gerne ignoriert. Schon heute gibt es immer wieder Datenlecks, Hackerangriffe, interne Missbräuche oder technische Pannen, durch die Unberechtigte an diese Daten gelangen."

Eine elektronische Übermittlung von Rezepten oder Befunden würde Zeit und Aufwand ersparen. Die Daten könnten dezentral zum Beispiel auf der Versichertenkarte gespeichert werden. Nur würden dann die großen IT-Firmen nicht so viel daran verdienen. Schon jetzt sind Milliarden Krankenkassen-Gelder zu IT-Firmen wie Compugroup geflossen. Krankenkassen und somit die Beitragszahler werden gesetzlich verpflichtet zu bezahlen.

Dr. med. Hildegard Fischer, München, Praktische Ärztin, Psychotherapie

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Quelle:
SZ vom 07.07.2022
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