Gefangenenaustausch:Ein schmutziges Geschäft

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(Foto: Denis Metz)

Russland lässt zahlreiche westliche Gefangene frei – im Gegenzug lässt Deutschland den Tiergarten-Mörder nach Moskau ausreisen. Nicht nur in der Redaktion ist man sich uneins über den Deal, auch in der Leserschaft gibt es sehr gegensätzliche Meinungen dazu. 

„Großer Gefangenenaustausch mit Russland“ vom 2. August, Pro und Contra „Leichter, aber falsch“/„Ekelhaft, aber richtig“ vom 3. August:

Ich schäme mich für mein Land

Justizminister Buschmann hat als verantwortlicher Minister die Weisung zur Freilassung des Tiergarten-Mörders erteilt. Diese Entscheidung hat er vermutlich in Abstimmung mit dem Kabinett und dem Kanzler getroffen. Wie müssen sich die Angehörigen des Mordopfers fühlen, wenn schon ich deswegen frustriert, empört und enttäuscht bin? Einen verurteilten Mörder in sicherem Wissen nach Russland entkommen zu lassen, dass er dort seine Tat mitnichten weiter abbüßen muss, sondern wohl als Held gefeiert werden wird, das widerspricht meinem Gerechtigkeitsempfinden zutiefst!

Ich sage, die Bundesregierung ist unter Druck aus dem Ausland (USA, Russland und wer noch?) eingeknickt und hat unserem Land großen Schaden zugefügt. Denn nun wissen alle: Deutschland ist erpressbar und willig, große Ideale der Demokratie wie „Gerechtigkeit gegenüber jedermann“ für „höhere Interessen“ zu opfern. Ich verachte solches Zurückweichen und schäme mich unsäglich für mein Land.

Michael Carl, Türkenfeld

Wenn es Ihr Bruder wäre?

Die beiden Artikel von Detlef Esslinger und Ronen Steinke mit den konträren Meinungen zum Thema Gefangenenaustausch lassen sicher viele Leser:innen ratlos die SZ weglegen. Was ist nun richtig? Eins würde ich aber Ronen Steinke gerne fragen: Würden Sie die Meinung, „dass man Nein sagen muss“, um „keiner Erpressung nachzugeben“, auch vertreten, wenn Ihr Bruder oder Ihr bester Freund der schuldlos verhaftete Journalist gewesen wäre? Könnte es nicht sein, dass Sie dann der Meinung von Detlef Esslinger zustimmen würden, dass Ihnen bei der Wahl zwischen „Prinzip des Rechtsstaats oder das Leben von Menschen“ die Entscheidung für das Leben leichter fallen würde?

Dr. Michael Juhl, Seefeld

Wie leere Flaschen im Sturm

Der Kriegsverbrecher Putin erpresst die Bundesregierung, um einen seiner Auftragskiller heimzuholen, Scholz/Buschmann fallen um wie eine leere Bierflasche im Sturm. Bei Putin knallen die Sektkorken, er fällt vor Lachen fast vom Sofa, weil er weiß, er kann in Zukunft immer so weitermachen und Leute sogar im Ausland problemlos ohne Konsequenzen kaltmachen lassen. Einfach nur widerlich, alle beteiligten Akteure.

Gerald Ernst, München

Eben nicht erpressbar

Unser Staat, unsere Regierungen sind nicht für alle Zeiten durch skrupellose Diktatoren wie Putin erpressbar – das zeigt doch gerade der Hinweis auf Helmut Schmidt: Jede zukünftige Bundesregierung ist frei, in einer vergleichbaren Situation nach dem Prinzip Schmidt („Der Staat ist nicht erpressbar“) oder so wie die aktuelle Regierung zu verfahren. Glücklich, wer glaubt, hier gäbe es nur ein eindeutiges Richtig oder Falsch. 

Prof. Dr. Wolf-Rüdiger Heilmann, Berlin

Gefangene „auf Vorrat“

Die Bundesregierung hat sich angemaßt, Politik über geltendes Recht zu stellen und den rechtmäßig verurteilten russischen Auftragsmörder in die triumphal geöffneten Arme des Auftraggebers Putin zu übergeben.

Für mich ist dieses Verhalten der Bundesregierung so verwerflich, wie ich es bisher nur von Diktaturen kannte. Putin wird weiter morden lassen und weiterhin Ausländer – vielleicht sogar „auf Vorrat“ – bereithalten, um Regierungen damit zu erpressen und mit ihnen wie mit Marionetten zu spielen. Und die Bundesregierung wird wieder vor der gleichen Gewissensfrage stehen. Man tut derzeit so, als wäre die jetzige Entscheidung einmalig, um Menschen, die das Recht höher schätzen als politische Entscheidungen, ruhigzustellen. Aber die Regierung wird sich, wie sie dann erklären wird, „gezwungen sehen“, wohl wieder so handeln zu müssen. Ein Dilemma!

Walter Egeter, München

Erhöhung der Verhandlungsmasse

Bei der Beurteilung dieses Falls gibt es jenseits der juristischen und der humanitären auch eine politische Dimension, denn seinen FSB-Kameraden Wadim Krasikow wollte Putin unbedingt freipressen, auch um seine Macht zu demonstrieren und seine Rolle als Übervater der Nation zu zelebrieren. Hätte die Bundesregierung den Austausch des Tiergarten-Mörders Wadim Krasikow erneut verweigern können?

Schon 2022 beabsichtigte Putin jenen gegen Brittney Griner auszutauschen, was die Bundesregierung ablehnte, weswegen die Sportlerin dann gegen den in den USA inhaftierten Waffenhändler Wiktor A. But ausgetauscht wurde. Jetzt im zweiten Anlauf ist es Putin geglückt durch die Erhöhung der Verhandlungsmasse, denn nichts anderes sind für ihn die in Geiselhaft genommenen Menschen. Der Austausch war aber nicht nur im humanitären, sondern auch im innenpolitischen Interesse der US-Regierung, die in Wahlkampfzeiten ihre unschuldigen Bürger und den russischen Oppositionellen zur Freiheit verhelfen wollte. Eine Weigerung der Bundesregierung hätte die erst seit Kurzem erstarkten transatlantischen Beziehungen aufs Spiel gesetzt.

Der Vergleich mit dem Fall des Arbeitgeberpräsidenten und ehemaligen SS-Untersturmführers Hanns Martin Schleyer, der von den Terroristen der RAF entführt wurde, ist juristisch legitim, doch die Dimension ist hier eine viel weitreichendere. Putin, sosehr er in seinem Verhalten einem Terroristen ähneln mag, ist Staatsoberhaupt einer kriegsführenden Atommacht und spielt auf der weltpolitischen Bühne eine nicht zu unterschätzende Rolle. Allerdings stellt sich zu Recht die Frage, ob nicht ein Nachgeben gegenüber einem „berechenbaren Erpresser“ in der Art des Appeasements zu erneuten Erpressungsversuchen führt.

Claudia Mennel, München

Was nutzt ein Gefangener?

Ich vermute, in der Redaktionskonferenz wurde besprochen, wie man als liberales Blatt auf die Möglichkeit des Gefangenenaustauschs unter der Bedingung der Freilassung des verurteilten Tiergarten-Mörders reagieren soll/muss. Dann wurde entschieden, wir kommentieren beide Seiten. Ich lese die Artikel von Steinke immer sehr gern, weil sie differenziert sind und oft den Mainstream zurechtrückende Argumente enthalten. Um so erstaunter bin ich über die eindeutige Haltung zu dieser Austausch-Debatte, ohne zu erwähnen, dass im Gegenzug in Russland Gefangene freikommen: Das sei die reine Erpressung. Richtig. Aber was denkt denn der deutsche Staatsangehörige, wenn man ihm sagt: Wir können diesem Deal nicht zustimmen aus Gründen der Staatsräson, tut uns leid, du musst dann halt leider in russischen Lagern bleiben.

Was hat der deutsche Staat davon, wenn ein verurteilter Mörder in seinen Gefängnissen sitzt? Die in russischen Lagern eingekerkerten Deutschen sind glücklich, wenn man sie dort herausholt. Ist das kein Argument?

Eberhard Drück, Wachtberg

Nicht auflösbarer Konflikt

Natürlich haben beide irgendwie recht, aber liegen andererseits auch wahrscheinlich falsch. Eine ähnliche Frage wird sich Bundeskanzler Schmidt damals auch gestellt haben, als die RAF Mitglieder gegen das Leben der Geisel Hanns Martin Schleyer freipressen wollten. Der Kanzler musste sich damals viel Kritik anhören. Er hat sich für die Staatsräson und gegen die Menschlichkeit entschieden. Auch schon damals stand die Erpressbarkeit des Staates auf dem Spiel und auf der anderen Seite ein mögliches Opfer. Dieselbe Frage müssten wir uns stellen, wenn es um die Geiseln in den Händen der Hamas geht. Ist ein Deal, der doch quasi herbeigesehnt wird, um diesen abscheulichen Krieg zu beenden, nicht die Einladung an die Hamas, das zum „Geschäftsmodell“ zu machen, wie es andere Terrorgruppen in der Welt des Häufigeren schon betrieben haben? Solche Geschäfte sind immer schäbig, weil wir etwas Unmoralisches tun müssen, um moralisch handeln zu können. Wann ist so ein Deal „richtig genug“, um den Gestank des Schmutzes zu übertünchen?

Die westlichen Regierungen haben jetzt so entschieden – wie hoch der Druck aus den USA war, werden wir nicht erfahren –, weswegen sie auch mit eventuellen Konsequenzen leben müssen. Skrupellose Machthaber werden sich gern dieses „Instrumentes“ bei Gelegenheit bedienen. Das ist ein moralisch nicht auflösbarer Konflikt. Man muss die Entscheidung von Kanzler Schmidt damals nicht für richtig gehalten haben; aber er stand auch Jahre später noch dazu, obwohl er damals die Angehörigen des Opfers um Entschuldigung bitten musste. Genauso müssen wir die jetzige Entscheidung bewerten: Kritikwürdig, aber trotz vieler moralischer Bedenken nachvollziehbar. Für mich als Beobachter ist interessant, wie sich die Verantwortlichen bei der nächsten zu treffenden Entscheidung aus der Affäre ziehen, wenn es sich um weniger bekannte Opfer handelt oder vielleicht um ein paar namenlose Palästinenser, Afghanen oder Afrikaner:innen.

Thomas Spiewok, Hanau

Dehnbare Rechtsstaatlichkeit

Ich danke Herrn Steinke für seine klaren Worte, die es auf den Punkt bringen: Ein Rechtsstaat, der glaubwürdig sein will, darf sich niemals erpressen lassen. Leider schafft es Diktator Putin, dieses Prinzip zu unterwandern! Helmut Schmidt hier als Beispiel für das Nachgeben zu erwähnen, finde ich unglücklich, denn er war es, der die harte Entscheidung bei der Entführung der Lufthansa-Maschine in Mogadischu getroffen hat, die RAF-Terroristen nicht auszutauschen, und hier ging es um 90 Leben und um das Leben von Hanns Martin Schleyer, der für den Rechtsstaat „geopfert“ wurde! Wie hätte die heutige Bundesregierung bei der Lufthansa-Entführung gehandelt? Wenn Rechtsstaatlichkeit dehnbar ist, dann wird sie unglaubwürdig und lädt Terroristen und Diktatoren dazu ein, sie auszutesten.

Stefan Kunzmann, Lübeck

Realpolitik für den Frieden

Russlands Präsident hat nicht nur die Freilassung des Tiergarten-Mörders durchgesetzt. Der Gefangenenaustausch zeigt der ganzen Welt, wie flexibel die USA im Umgang mit Putin sein können. 

Ich sage schon seit Langem, dass US-Präsident Biden noch in seiner Amtszeit entscheiden wird, ob er als der Friedenspräsident, der den Angriffskrieg Russlands in der Ukraine beenden wird, in die Geschichte eingehen will, oder ob er dieses Arrangement seinem möglichen Nachfolger im Amt Donald Trump überlassen will.

Das ist Realpolitik. Sonst nichts. Ohne Realpolitik wird es keinen Frieden in den großen und kleinen Krisenherden dieser Welt geben. Das Leben ist kein Wunschkonzert.

Dr. Detlef Rilling, Wesseln

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