1980:Der Kandidat im Rausch der letzten Runde

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Womit der Spitzenmann der Unionsparteien den Begeisterungstaumel der Massen anheizt und wie er seine Siegeschancen einschätzt

Von Hans Ulrich Kempski

Der Kanzlerkandidat Franz Josef Strauß (m.) mit Helmut Kohl und Gerhard Stoltenberg (l.), dem damaligen Ministerpräsidenten Schleswig-Holsteins, auf der Wahlkampfauftaktveranstaltung für die Bundestagswahl in Mannheim im Jahr 1980. (Foto: AP/SZ Photo)

Bei der Bundestagswahl 1980 tritt Franz Josef Strauß als Kanzlerkandidat der Union gegen Helmut Schmidt von der SPD an (und wird die Wahlen verlieren). Der preisgekrönte SZ-Reporter Hans Ulrich Kempski begleitet Strauß während seines Wahlkampfs.

Beim Kampf um die Macht, auf den Franz Josef Strauß sich eingelassen hat, hofft der Kandidat, den Wind im Rücken zu haben. Und da eine Wahlschlacht, wie er sie führt, ohne Autosuggestion unmöglich wäre, stimmt er sich mehr und mehr auf die Erwartung ein, nur noch um Haaresbreite entfernt zu sein vom größten Sieg seines Lebens. Gleichzeitig bleibt ihm jedoch bewußt, daß Hoffnungen nicht zu trennen sind von den Illusionen, die sie tragen. Er will sich deshalb vor Selbstbetrug schützen. So hat er vorbeugend mitgeteilt, daß er auch im Fall einer Niederlage nichts verlieren werde. "Es geht bestimmt nicht um mich", behauptet er, "ich brauche keine Luftveränderung." Sein Drang nach der Hauptrolle auf der Bundesbühne sei keineswegs unbezähmbar. Der Kanzlerkandidat der Union gibt dafür eine Begründung an, die offenbar verwirrend auf jene wirkt, die ihn zuvor umjubelt haben. Ihr Enthusiasmus weicht Betroffenheit, sobald Franz Josef Strauß verkündet: "Für einen Politiker ist das Amt des bayerischen Ministerpräsidenten die schönste Aufgabe in Europa."

Solch begrenzter Ehrgeiz verträgt sich mit dem Image nicht, das deutsche Menschenmassen vor Augen haben, die von Strauß eine Zeitenwende erwarten. Der Zulauf, den er erlebt, ist größer noch als einst bei Adenauer, ist somit seit Gründung der Bundesrepublik ohne Beispiel. Um alle versammeln zu können, die Strauß zu hören begehren, sind Marktplätze und Kongreßhallen in der Regel zu klein, sind Stadionanlagen nötig. "Ich habe", rühmt sich Strauß, "die Rekorde Adenauers verdoppelt." Die Magie der großen Zahl berauscht ihn. Sich mit der ohnehin eindrucksvollen Realität nicht zufriedengebend, teilt Strauß seinem Publikum stets unverzüglich mit, wieviele da angeblich beisammen sind, wobei er Schätzungen vorbringt, die häufig um Tausende überhöht sind. Er scheint dies nicht berechnend zu tun, sondern geradezu zwanghaft wie einer, für den gewaltige Menschenmengen ein Lebenselexier sind bei dem Versuch, der sechste deutsche Bundeskanzler zu werden.

Bis zum Samstag wird Strauß über 50 000 Kilometer im Flugzeug, im Hubschrauber und im Auto zurückgelegt haben. Er hat dann in den letzten fünf Wochen 52 Großkundgebungen hinter sich, hat eine Million Menschen direkt angesprochen. Sie empfangen ihn, wenn er am Ort einer Kundgebung eintrifft, wenn Marschmusik losgeht, wenn Fahnen geschwenkt werden und Luftballons aufsteigen, überall mit Ovationen, die endlos erscheinende Minuten andauern. Dann folgen im harten Rhythmus Sprechchöre, die "Franz-Jooh-seff" skandieren. Stets aufs neue hingerissen, nimmt Strauß dies nicht wie ein Triumphator entgegen, sondern reglos gebückt, wie von Glück belastet. Wer mit ihm landauf, landab unterwegs gewesen ist, weiß schnell, daß diese Geräuschkulisse von keiner Regie in Gang gesetzt wurde. Brüllen und Jauchzen sind vielmehr ein in kollektiver Ekstase entfesseltes Kampfgeschrei, das Sehnsucht nach einem Machtwechsel in Bonn ausdrückt.

Im Lager der Union sind jetzt selbst Zögernde mobilisiert

Die große Mehrheit solcher Versammlungsbesucher besteht augenscheinlich aus angestammter Gefolgschaft. Die Leute nehmen lange Wartezeiten auf den stets unpünktlichen Strauß ebenso geduldig hin wie Beschwernisse durch die Polizei. Der polizeiliche Sicherheitsaufwand wirkt bedrohlich. Polizisten in Kampfanzügen schwärmen gestaffelt selbst in abgelegenen Provinzstädtchen derart zahlreich aus, als ob man inmitten eines Bürgerkriegszentrums wäre, wo es gilt, einem fremden Militärgouverneur Schutz zu gewähren. Wenn trotzdem bereits die Ankunft von Strauß geeignet ist, regelrechte Delirien der Erregung zu provozieren, so scheint diese mehr zu sein als bloß eine Woge gleichgerichteter Wonnegefühle. Im Strauß begrüßenden Begeisterungstaumel schwingen spürbar Stimmungen mit, die noch etwas anderes zu demonstrieren scheinen, nämlich daß im Lager der Union jetzt auch Zögernde mobilisiert sind, die sich anfangs gegen den Machtanspruch von Strauß aufgelehnt haben.

Das Kampffieber wird gesteigert durch einen Organisationsmechanismus, der nichts dem Zufall überläßt. Die Organisation liegt bei der Bonner CDU-Zentrale, ohne deren Perfektion die Strauß-Kampagne bestimmt weit weniger eindrucksvoll wäre. Die CDU-Zentrale baut gut platzierte und prächtig dekorierte Rednerpodeste auf, sorgt für geschickte Scheinwerferbestrahlung, für richtig ausgesteuerte Lautsprecheranlagen, für witzigen Propaganda-Schnickschnack in Fülle, für weithin sichtbare FJS-Spruchbänder sowie für Zubringerbusse, die das Parteivolk aus der Umgebung herbeitransportieren. Das Aufgebot freiwilliger Ordner ist inzwischen stark genug, mit jeder Störung fertigzuwerden.

"Ich muß", sagt Strauß, "ich selbst bleiben."

Denn es gibt keine groben Störungen mehr, die einen glatten Versammlungsverlauf gefährden könnten. Sie bleiben, nachdem die SPD ihrer Parteijugend die Teilnahme an Anti-Strauß-Aktionen verboten hat, beschränkt auf isolierte Splittergruppen. Die aber sind zu klein, um den Redner mundtot zu machen. Strauß fällt es leicht, sie dem öffentlichen Gelächter preiszugeben, indem er ruft: "Ihr apokalyptischen Esel dahinten." Falls dies nicht reicht, folgt eine erprobte Formel. "Dummheit ist schlimmer als Bosheit, denn Bosheit setzt manchmal aus - Dummheit nie." Und falls Störer auch danach noch schreien oder pfeifen, ignoriert sie Strauß meistens. Er hat sich neuerdings abgewöhnt, sie als "Gesindel" zu bezeichnen. Auch das Publikum ist toleranter geworden. Es zeigt gemeinhin keine Neigung zu Handgreiflichkeiten. Handgreiflichkeiten bleiben zumeist selbst dann aus, wenn Strauß einen besonders hartnäckigen Krakeeler einzuschüchtern versucht, indem er droht: "Lange, mein Freund, werden Sie das nicht mehr treiben."

Auch Strauß ist als Redner über weite Passagen hinweg weniger aggressiv geworden. Daß er etwas gemäßigter wirkt, wenngleich er nach wie vor mit geballter Eloquenz Emotionen freisetzt, ist seit seiner Rückkehr aus dem Urlaub Mitte August zu registrieren. Er hat sich, wie er gesprächsweise wissen läßt, von Ratgebern befreit, die ihn entweder zur Scharfmacherei oder zur Leisetreterei beeinflußt haben. Seine angebliche Befreiungstat geht auf die Gewißheit zurück, einen scheinbar unabänderlichen Trend gegen seine Kandidatur gewendet zu haben. "Ich muß", sagt Strauß, "ich selbst bleiben." So kann er, trotz Derbheit und exzentrischer Polarisierung, auch durchaus entspanntes Gelächter auslösen. "Sie sehen", so kommentiert er dies beflissen, "daß mich im Wahlkampf Ironie und Humor nicht verlassen haben."

Mit kaum gebremster Heftigkeit bleibt er indes auf Konfrontationskurs gegen den Bundeskanzler. Zwar räumt er in privater Runde ein, daß Helmut Schmidt die mit Abstand potenteste Führungsfigur in der sozialdemokratischen Spitzenetage sei, doch in öffentlicher Rede bleibt davon wenig übrig. Da ist Schmidt gleichsam Wachs in den Händen des "marxistischen Führungstrios Wehner-Bahr-Brandt", da ist er dessen "leitender Angestellter". Strauß malt, wenn er über Schmidt räsoniert, geradezu schwelgerisch Zerrbilder aus, die geeignet sind, den Bundeskanzler als giftig verfärbte Karikatur hinzustellen, als ewig blamierten falschen Propheten, als opportunistischen Täuscher, als Kriegskanzler, als Friedensschwätzer, als rüden Jakobiner. Er nennt ihn "den mit dem Volksoffizierblick" und "den mit der leichten Stahlhelmfarbe in den Haaren". Er konzentriert solche Bewertungen freilich nicht auf eine einzige Rede, er verstreut sie.

Strauß hat keine vorformulierte Standardrede, wohl aber ein Grundkonzept

Warum sich bei Strauß so viel polemische Indignation über Schmidt aufgestaut hat, dafür mögen primär zwei Gründe gelten. Erstens: Strauß greift Schmidt kühl an, weil er offenbar meint, ihn nur dann aus dem Sattel stoßen zu können, wenn es ihm gelingt, seine eigene negative Einschätzung Schmidts auf viele andere zu übertragen, denen er zuruft: "Wir müssen diesen Schmidt zum Teufel jagen." Zweitens: Strauß reibt sich so rigoros an Schmidt, weil er diesen - obwohl er selbst frei ist von persönlichen Aversionen gegen den Kanzler - bekämpft als die Person, die den Platz einnimmt, der nach dem Selbstverständnis von Strauß eigentlich ihm selbst zukäme. Schmidt, so Strauß, sei als Heldenmaskenträger zweifellos der bessere Schauspieler: "Aber ich bin der bessere Politiker."

Er hat keine vorformulierte Standardrede, wohl aber ein Grundkonzept. Er braucht keine Textunterlagen. Je nach Terminplan und auch nach Laune spricht er bis zu zwei Stunden. Er tritt täglich in zwei Orten auf, manchmal in drei. Seine Reden sind in Syntax und Grammatik nie festgefahren, sind in den Stilmitteln variabel. Ihm fallen spontan stets neue Pointen ein, deren Wirkung auf das Publikum ihm anscheinend vorher oft gar nicht bewußt ist. Da er gerne drastisch spricht und keine gekünstelten Begriffe kennt, darf er sicher sein, immer klar verstanden zu werden. Das Ganze ist eine rhetorisch brisante Komposition, an der sich die Geister kraß scheiden.

"Mit uns für Frieden in Freiheit": Der damalige CSU-Generalsekretär Edmund Stoiber in einer mobilen Wahlkampfstation der CSU für die Bundestagswahl 1980. (Foto: DB Hamberger/DPA)

Seine Offensive kommt allerdings dann nicht richtig voran, wenn er das Thema "Frieden und Freiheit" abhandelt. Da muß er eher defensiv erscheinen. Der Eindruck entsteht, weil Strauß es für nötig hält, die Qualität seiner Friedensfähigkeit allzu wortreich darzulegen. Er schildert dabei ausführlich seine Treffen mit Ostblock-Größen, er betont seine Zuverlässigkeit als Vertragspartner, er stellt sich als risikobewußt und risikoscheu hin. Er sei in Wahrheit, sagt Strauß sogar, ein "Verhaltenspazifist", dessen wahren Wert als Friedenspolitiker zu bezweifeln nur möglich geworden sei, weil Schmidt eine diabolische Verleumdung in Gang gesetzt habe. Beinahe beschwörend macht er dem Wählervolk klar, wie absurd es sei, an Kriegsgefahr zu denken. Denn die Herren im Kreml seien, genau wie er selbst, risikobewußt und zugleich risikoscheu, was sie bleiben würden, falls er als einer mit langem Atem und mit strategischem Instinkt Bundeskanzler wäre. "Wir leben sicher wie in Abrahams Schoß, solange die NATO funktionsfähig ist."

Häufig beklagt Strauß seine Rolle als unschuldig Verfolgter

Erst wenn dies ausgebreitet ist, wirft Strauß ein grelles Licht auf die angebliche Schattenseite der einstweilen noch gesicherten Lage. Mit dunklen Andeutungen spricht er von der stärker werdenden "Moskau-Fraktion" innerhalb der SPD, von "schrittweiser Annäherung" an Moskau, von "ratenweiser Kapitulation", von länger werdenden Schatten der Sowjets über Deutschland. Die Sowjetunion, sagt er, werde nur dann nicht in Versuchung sein, ihre derzeit noch auf Frieden in Mitteleuropa bedachte Politik zu korrigieren, falls es gelingt, die Bindungen der Bundesrepublik an Amerika wieder zu stabilisieren. "Nur wir", ruft Strauß mit allen Merkmalen eines Beschwörers aus, "garantieren Ihnen Frieden in Freiheit." Und wie einer, der einen völlig neuen Artikel propagiert, wiederholt Strauß: "Wir garantieren dies Ihnen."

Obwohl er im Umgang mit Gegnern wenig Bedenken kennt, läßt gerade seine Friedens-Passage spüren, wie empfindsam er selbst ist, wie leicht verwundbar. Denn häufiger, als es psychologisch nützlich sein kann, beklagt er seine Rolle als unschuldig Verfolgter. Er reißt sich, sobald er als Verfolgter spricht, empört die Brille vom Gesicht und blickt wie jemand drein, dem schwindelig vor Zorn geworden ist, und der nun Mühe hat, das Gleichgewicht zu wahren. Strauß muß, wie er sagt, mit Verleumdungen fertigwerden, mit Lügen, Hetze, Haß, Niedertracht, Brunnenvergiftung. Solche Vokabeln reiht er überquellend zu Sätzen aneinander, die wahren Horror vermitteln. Besonders widerlich sei, so der Verfolgte, daß seine Verfolger schwer zu fassen sind, weil sie sich hinter "der Nebelwand roter Rauchkerzen verbergen".

Gewiß, nicht alle Sozialdemokraten sind für ihn Übeltäter. Es gibt für Strauß "achtbare Sozialdemokraten", doch die sind entweder tot oder sie haben in der Partei nichts zu sagen. Dann stuft er die Freien Demokraten als "kleine Lückenbüßerpartei" ein, als "pseudoliberale Mitläufer". Sie seien mit ihrer "Zweitstimmen-Mogelei" schuld daran, daß in Bonn Sozialisten die Hebel der Macht mißbrauchen. Die wahre Funktion der Freien Demokraten ist laut Strauß, "in unseren Gebieten zu wildern und dann die erlegte Wählerbeute in der sozialistischen Küche abzugeben, damit dort der Ofen nicht ausgeht".

Welches Echo der Kanzlerkandidat jeweils hinterläßt, das wird wesentlich vom Publikum beeinflußt. Denn stärker noch als er die Zuhörer anheizt, können sie ihn durch ihr Verhalten stimulieren. So kommt es bisweilen zu Wechselwirkungen, die schließlich einen durchs Publikum aufgeputschten Strauß zu einer unkontrollierten Entladung treiben, die er danach bedauert. Ein Ergebnis solcher Wechselwirkung ist beispielsweise gewesen, daß er sich zu einer Aussage hinreißen ließ, die er eigentlich nicht machen wollte: "Wir werden dafür sorgen, daß die Menschen in der DDR die Freiheit wieder bekommen."

Die Kapelle beginnt die Nationalhymne zu spielen. Es soll mitgesungen werden, doch die allermeisten kennen den Text der dritten Strophe des Deutschlandliedes nicht, sie summen nur mit. Der Schlußbeifall hat wenig gemein mit dem Jubel am Anfang. Der Beifall hört sich jetzt so an, als würde er nicht mehr richtig locker von Herzen kommen. Er klingt klirrend, irgendwie trotzig. Auch sind die Versammlungen, falls sie im Freien stattfinden, bereits vor Schluß an den Rändern beträchtlich ausgefranst. Nicht wenige, die vorzeitig gehen, äußern sich in Gebärden und Worten enttäuscht. Kein Wunder also, daß darüber diskutiert wird, ob Strauß wohl seinem Ziel nähergekommen sei, sich als unschlagbare Wahllokomotive durchzusetzen Die Masse indes schiebt sich dem Redner verzückt entgegen. Seine Anhänger wollen ihn berühren. Tüchtige Leibwächter von der bayerischen Kriminalpolizei, die Strauß zugeteilt und ihm, unabhängig von ihrer Couleur, persönlich auch zugetan sind, schleppen ihn, zusammenklappbare Maschinenpistolen lässig in den Armen, aus dem Gedränge ab. Sie eskortieren ihn zum Bundesgrenzschutz-Hubschrauber, der stets startbereit nahebei auf einer Wiese wartet. Man muß Strauß im Hubschrauber begleitet haben, um nachzuempfinden, was in diesem Mann vorgehen mag, wenn er nun in fünfzig Meter Höhe langsam entschwebt, während unten Tausende auf den Beinen sind, die ihm mit hochgereckten Armen zuwinken. Ein erschöpftes Lächeln im schweißverklebten Gesicht, winkt Strauß beglückt zurück. Er wirkt wie einer, der diesen Moment rauschhaft genießt, ihn beinahe entrückt auskostet. Er scheint in eine Sphäre des Sich-berufen-Fühlens aufzusteigen.

Schlaff in sich zusammengesackt, fliegt Strauß im Hubschrauber weiter

Er hat sich total verausgabt. Jede Rede ist bei ihm Schwerstarbeit. Sein Körper wippt beim Reden ständig auf und ab, seine Arme kommen nicht zur Ruhe. Sein Hemd und sein Anzug sind nach jeder Rede völlig durchnäßt. Freunde von Strauß, die ihm nahe sind, führen es auf den abgekämpften Zustand des Kandidaten mit zurück, daß ihm immer wieder der Gaul durchgeht: zum Beispiel bei der von Strauß in blinder Wut verfügten "Absetzung" des polizeilichen Einsatzleiters in München oder auch bei der hitzigen Überreaktion, die ihn nach dem Münchner Terroranschlag auf der Oktoberfestwiese zu dem Versuch getrieben hat, das Attentat parteipolitisch auszuschlachten.

Schlaff in sich zusammengesackt, fliegt Strauß im Hubschrauber weiter. Ihm wird ein Fläschchen mit "Eiswasser" zugereicht, das kühlend in die Poren eindringt, eine halbe Stunde lang erfrischend wirkt. Strauß schließt die Augen, döst vor sich hin. So kräfteverzehrend jede Wahlrede für ihn ist, so schnell regeneriert er sich physisch. Daß auch die Spannkraft des Geistes nicht gebrochen wird, beweist die nächste Rede. Er trinkt zwischendurch eine Flasche Bier, einen Piccolo-Sekt sowie Apfelsäfte. Harte Drinks gibt es bis zum 5. Oktober nicht. Um diesen Vorsatz nicht zu gefährden, fliegt er unmittelbar nach der letzten Versammlung zurück nach München. Er will nicht "irgendwo hängenbleiben". Eine Folge hiervon ist, daß Journalisten, die unterwegs Kontakt zu ihm suchen, nur selten eine Chance dazu haben. Strauß weicht den Presseleuten auch deshalb aus, weil er den meisten von ihnen mißtraut.

"Haben Sie keine Angst gehabt?", will er nach der Landung in München-Riem wissen, eine gar nicht unberechtigte Frage. Denn daß Strauß nach den Strapazen des Tages sich nachts im Cockpit auf den Pilotensitz zwängt, um die kleine Maschine im Instrumentenflug heimwärts zu steuern, das ist für die Mitreisenden im Kabinenraum, wo sechs Sessel für Passagiere sind, in der Tat ein Erlebnis, auf das man lieber verzichtet hätte. Daran ändert auch der Umstand wenig, daß rechts neben Strauß ein Berufspilot wacht. Die zweimotorige Piper-Turboprop des Typs Cheyenne ist von einer Chartergesellschaft ausgeliehen worden. Vernarrt in die Fliegerei, scheint Strauß zu wähnen, es werde ihm womöglich als Schwäche ausgelegt, wenn er nach einem übermüdenden Tag nachts nicht beweist, eine Maschine starten und landen zu können.

"Meine größte Schwäche ist meine Gutmütigkeit."

Daheim ist er entspannt genug, Antwort auf die Frage nach seiner größten Schwäche zu geben. Seine Zunge sei sein schlimmster Feind, hat er früher einmal selbstkritisch zugegeben. Nun sagt er: "Meine größte Schwäche ist meine Gutmütigkeit." Er präzisiert dies freilich dahingehend, daß er damit seine mangelhafte Menschenkenntnis meint; im Gegensatz zu seiner Frau neige er naiv zu Fehlbeurteilung von Charakteren, die er erst zu spät durchschaut. Was seine größte Stärke sei, das glaubt Strauß hingegen zweifelsfrei zu wissen. "Eine analytisch-prognostische Begabung auf der Basis einer gründlichen historischen Bildung."

Entschlossen, sich und anderen nichts vorzumachen, vermeidet er für den Fall, daß er Bundeskanzler wird, konkrete Versprechen, die damit verbunden wären, präzise Pläne und materielle Daten anzugeben. Strauß kündigt vielmehr an, daß auch überlegene Führungskunst nicht ausreichen werde, um im Verlauf von vier Regierungsjahren Durchgreifendes zu schaffen. Er sagt: "Da wird man keine goldenen Berge versprechen dürfen." Und er sagt auch: "Da wird man noch einen Nachfolger brauchen."

Handschlag nach einem polarisierenden Wahlkampf: Franz Josef Strauß begrüßt den SPD-Vorsitzenden Willy Brandt vor Beginn der "Elefantenrunde" der Parteichefs am Wahlabend. (Foto: Werek/SZ Photo)

Auffallend, wie gedrosselt sein Optimismus angesichts der Frage bleibt, ob er überhaupt eine Chance habe, Schmidt als Kanzler abzulösen. Öffentlich gibt er hierzu kund, daß Schmidt dann mit Sicherheit weggewählt werden würde, wenn die Wahrheit über Schmidt bei den Wählern ankäme. Im Gespräch unter vier Augen ist Strauß hingegen geneigt, diese Frage mehr rückblickend zu betrachten. Er denkt grüblerisch an jene Jahre zurück, in denen es nicht ihm, sondern Kiesinger, Barzel und Kohl gegönnt gewesen ist, sich nach vorne zu schieben. Er spricht sich darüber nachdenklich aus, aber nicht verbittert. Als wäre er frei von Groll und Neid, sagt Strauß: "Ich habe keinen Ehrgeiz und keine Lebensplanung."

Den Blick auf den 5. Oktober gerichtet, ist er bereit, darüber zu sprechen, was er als Kanzlerkandidat bestimmt erreichen werde. Seine Erwartung klingt bescheiden. "Eine Geschlossenheit, die noch vor zwei Jahren niemand erträumt hat." Daraus wird sich nach Meinung von Strauß zumindest Folgendes ergeben: "Wir werden eine Mehrheit gewinnen, gegen die man nicht regieren kann."

Er weiß, daß es für ihn um alles oder nichts geht. Falls er sich auf der Verliererseite wiederfindet, wird es für ihn als Kanzlerbewerber keine neue Runde geben. Er bezieht dies in seine Überlegungen ein, wenngleich er bestimmt nicht daran denkt, gedemütigt einen ruhmlosen Abschied zu nehmen. "Was meine politischen Gegner daraus machen würden, das kümmert mich kaum", meint er auf die Frage, ob er, wenn er sein Ziel nicht erreicht, eine Zeit schwerer Prüfungen durchmachen werde. Franz Josef Strauß ist sich, wie er ohne Einschränkung sagt, ganz gewiß, nach einer Niederlage innerlich unversehrt zu bleiben.

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