„Linksbündnis will Frankreich regieren“, Kommentar „Was eine Mehrheit ist“ und Gastbeitrag „Und der Hass hat doch gesiegt“ vom 9. Juli:
Breite Bündnisse
Die Ergebnisse der Europawahlen sowie der Wahlen zur Nationalversammlung in Frankreich haben Geschichte geschrieben. Bisherige Konstanten, bei denen nach zwei Wahlgängen letzten Endes das Mehrheitswahlrecht für eine starke Partei der Mitte und stabile politische Verhältnisse sorgte, sind fragwürdig geworden und haben zuletzt versagt. Eine absolute Mehrheit für den Rassemblement National Le Pens konnte schließlich nur verhindert werden, weil sich ein linkes Sammelbecken gebildet hat, und es eine Zusammenarbeit mit den Liberalen Macrons ermöglichte, häufig eine Mehrheit links des RN zu bilden. Mit Recht ist Manon Garcia erleichtert, obwohl klare Mehrheiten fehlen. Das Schlimmste ist damit tatsächlich abgewendet. Aber was nun?
Welche von drei Gruppierungen, die alle kaum ein Drittel der abgegebenen Stimmen erzielt hatten, kann jetzt eine solide Mehrheit und stabile Regierung bilden? Kann hier die Praxis der Bundesrepublik einen Ausweg bieten, bei der in aller Regel eine Zusammenarbeit und Koalition mehrerer Parteien aus unterschiedlichen Lagern angestrebt wurde? Der Zusammenschluss der Linksparteien und die Zusammenarbeit mit dem Lager Macrons haben jedenfalls das Ziel des RN, die absolute Mehrheit zu erzielen, verhindert. Kann dies ein Vorbild für die kommenden Wahlen in drei ostdeutschen Bundesländern sein?
Auch hier könnten mögliche absolute Mehrheiten der AfD am ehesten durch eine Zusammenarbeit aller demokratischen Parteien verhindert werden. Entgegenstehende Probleme sind lösbar. Da in den anstehenden Wahlen jeweils nur ein Wahlgang ansteht, kann sich ein Gegenkandidat zur AfD allerdings nicht aus einem ersten Wahlgang finden lassen. Ein Kandidat müsste sich entweder aus dem Abschneiden bei der letzten Landtagswahl oder einem späteren (nicht leicht zu findenden) Stichtag ergeben. Schwieriger dürfte es werden, die CDU zu einem derartigen Bündnis zu bewegen. Denn sie müsste ihre heilige Kuh, die Parteien des linken und rechten Rands gleichzusetzen, aufgeben. Kann aber heute noch ein vernünftiger Mensch die Linke als unzweifelhaft demokratische Partei und die rechtsextreme AfD gleichsetzen? Die Verantwortung für unser demokratisches Gemeinwesen sollte uns das französische Vorbild jedenfalls versuchen lassen. Die maßgeblichen Parteien sollten das Wohl des Landes über ihre Dogmen stellen. Ob sie dazu in der Lage sind?
Peter Fischer, Laudenbach
Es lohnt sich
Die Wahlen in England und Frankreich haben gezeigt: Es lohnt, sich gegen Rechtspopulisten zu engagieren und nationalistische Scheinlösungen zu entlarven.
Kurt Lennartz, Aachen
Komplizierte demokratische Einigungsprozesse
Das kurzfristige Ausrufen von Neuwahlen in Frankreich hat für helle Aufregung und das Reproduzieren sämtlicher bestehender Ressentiments gegen die gesorgt, die man schon lange im Verdacht hat, dass sie einem Übles wollen. Macron, die Rechten, die Linken, nichts sei mehr, wie es einmal war. So schallt es durch die fast gesamte demokratische Welt. Was früher als abwägende Mitte eine stabilisierende Aufgabe erfüllt hat, ist heute von populistischen Formeln und polarisierenden Emotionen besetzt. Die Welt ist eine andere geworden, sicher nicht zuletzt durch rücksichtslose Übertreibungen und Entgrenzungen.
Bei allem Chaos schält sich aber auch die Notwendigkeit heraus zu lernen, sich, bis in die kommunalen Verhältnisse hinein, komplizierten demokratischen Einigungsprozessen mit Enttäuschungen zu stellen, statt zentralistische und autoritäre Machtmonopole herbeizusehnen. Demokratie bedeutet nicht, die Wahl zu haben zwischen Finsternis und Taghell, bei dem einzelne Machthaber entweder alles richtig oder alles falsch machen. Wer für eigene Enttäuschungen andere verantwortlich macht, pflegt überhebliche Ressentiments und baut Wut auf.
Kai Hansen, Nürtingen
Unfaires Mehrheitswahlrecht
Detlef Esslinger stellt die Frage, ob das Mehrheitswahlrecht in Frankreich und Großbritannien „gerecht“ ist. Ich halte es nicht nur für unfair, sondern für undemokratisch. So hat es in Großbritannien fast immer zu Regierungen geführt, für die nur eine Minderheit der Wählenden gestimmt hatte. Dieses Mal hat Labour davon profitiert. Aber seit 1951 konnten die Konservativen nach den meisten Wahlen eine Regierung bilden, obwohl Labour und die (Links-)Liberalen die Mehrheit der Stimmen erhalten hatten. Dabei hätte Großbritannien eine sozialliberale Koalition gutgetan und sozialverträgliche Reformen beschert. Selbst Margret Thatcher erreichte nie mehr als 43,9 Prozent der Stimmen. Aber das Mehrheitswahlrecht verschaffte ihr die Mehrheit im Unterhaus. Und so konnte sie dem Land radikale, unsoziale Veränderungen aufzwingen.
Jürgen Wandel, Berlin
Denkanstoß für Berlin
Mit der Losung „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ und der Überwindung der absoluten Monarchie hat Frankreich vielen Menschen in Europa als Vorbild und Verfolgten als Zuflucht gedient. Die Vielfalt und Komplexität der heutigen Probleme in Europa wird nicht durch autoritäre Herrscher, sondern nur durch die Bereitschaft aller Demokraten zum Kompromiss bewältigt werden können. Bürgerinnen und Bürger sollten nicht auf den „starken Mann“, Heilsversprechen von Stellvertretern und Wunderheilung durch Scharlatane hoffen, sondern mit gesundem Menschenverstand für das Gemeinwohl arbeiten. Dazu gehört auch, Abstriche zu machen und Niederlagen nüchtern zu verarbeiten. Insofern könnten Parlamentswahl und Regierungsbildung in Paris auch einen Lernerfolg in Berlin bewirken und als Denkanstoß dienen, um Sacharbeit für die Bürgerinnen und Bürger zu leisten, statt ständig vorrangig den Nachweis führen zu wollen, die eigene Ideologie sei überlegen oder gar sakrosankt. „Cohabitation“ gehört nicht in die Schmuddelecke. Tricksereien beim Wahlrecht oder beim Verfassungsrecht wären abstoßend.
Rolf Sintram, Lübeck
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