Süddeutsche Zeitung

Frakturschrift:In die Nazi-Falle getappt

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Eine Stickerei auf den Sitzen eines neuen Polizeifahrzeugs in Sachsen löste Empörung aus. Die Frakturschrift, die dabei benutzt wurde, ist aber nach Meinung von Lesern gar kein Nazisymbol. Einen Leser stört etwas ganz anderes.

"Sitzstorm" vom 19. Dezember:

Wer die alte deutsche Schrift als Nazi-Symbol beschimpft und sie gar mit germanischen Runen verwechselt, tappt genau in dieselbe Falle, in welche Neonazis tappen, wenn sie diese vermeintlich rechtslastige Schrift für sich in Anspruch nehmen. Tatsache ist: Mehr als 500 Jahre lang waren gebrochene Schriften das Hauptausdrucksmittel für deutsche Literatur, von Martin Luther bis Karl Marx, und damit völlig unpolitisch. Das Kommunistische Manifest wurde in ihr genauso gedruckt wie der Vorwärts und die Bibel. Es war Adolf Hitler persönlich, der Martin Bormann befahl, ein Verbot der deutschen Schrift zu erlassen mit der hanebüchenen, unhistorischen Begründung, es handele sich um "Judenlettern"! Bei der Unesco liegt der Antrag vor, die deutsche Schrift als Kulturgut anzuerkennen. Wer sie nicht beherrscht, ist von unserer Geschichte abgeschnitten.

Einen Fehler muss man der sächsischen Polizei allerdings vorwerfen: Auch sie beherrscht die Fraktur nicht ganz, denn das S in "Sachsen" muss ein Lang-S sein.

Stephan Weidauer, Woustviller/Frankr.

Erinnerung an NS-Parteiadler

Die Frakturschrift wurde in der NS-Zeit nicht nur als "unmodern" verworfen, sondern 1941 ebenso giftig wie falsch als "Schwabacher Judenlettern" verboten. Dieses Verbot war insofern unsinnig und aberwitzig, als es nicht nur die Tradition zum über 700-jährigen Schriftgut seit der gotischen Textura zerriss, sondern, weniger bedeutsam, auch die neuesten Schöpfungen der gebrochenen Groteskschriften wie "Tannenberg", "Gotenburg" und "National" diskreditierte, die ja tatsächlich als besonders "deutsche" Typen entworfen worden waren. Diese sogenannte Schaftstiefelgrotesk kann heute auch den kundigen Leser befremden, selbst wenn sie bis in die 1950er-Jahre zum Beispiel die Hausschrift der evangelischen Kirche war.

Die unguten Assoziationen beim Betrachten der Polizeistickerei dürfte ihre Ursache in der Tatsache haben, dass die seitlichen Schwingen des Emblems fatal an den NS-Parteiadler erinnern. "Fraktur kann nichts dafur!", möchte man kalauernd ausrufen - der zeitlich größte Teil deutschen Schrifttums ist so und nicht anders gedruckt worden, und in vielen Fächern, zumal der Geisteswissenschaften, ist der sich bildende Mensch auch heute noch darauf angewiesen, Fraktur lesen zu können, um sich Quellen und Materialien zu erschließen. Dessen ungeachtet bleibt das bestickte Panzerfahrzeug natürlich eine geschichtsvergessene Geschmacklosigkeit.

Mischa W. Weggen, Lüneburg

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Quelle:
SZ vom 29.12.2017
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