Süddeutsche Zeitung

Europa:Staat oder nicht Staat...

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SZ-Leser machen sich Gedanken darüber, wie das europäische Gemeinwesen und speziell die europäische Union in Zukunft doch noch funktionieren könnten und was das Karlsruher Urteil damit zu tun hat.

Zu " Der Staat Europa" vom 9./10. Mai und " Spieler auf Augenhöhe" vom 13. Mai:

Verschiedene Welten

Wie ist es möglich, dass zwei so exzellente Juristen wie Heribert Prantl und der Verfassungsrichter Peter Michael Huber das Karlsruher EZB-Urteil so unterschiedlich bewerten? Ich kann es mir nur so erklären, dass beide in verschiedenen Europa-Welten leben. Der eine lebt im real-existierenden Europa mit seinen komplizierten rechtlichen und institutionellen Konstruktionen, der andere in einem (noch) nicht existierenden Traumhaus Europa. Prantl erklärt apodiktisch: "Europa ist ein Staat." Auch ich träume bisweilen von einem idealen Europa. Es müsste ein demokratisches Europa sein, das auf den Säulen von Solidarität und Subsidiarität ruht. Es würde den Regionen und Einzelstaaten maximale Eigenständigkeit zugestehen und nur da Kompetenzen beanspruchen, wo sie unbedingt erforderlich sind, zum Beispiel beim Klimaschutz und den Unternehmensteuern. Vor allem bräuchte dieses Europa eine wirklich demokratische Verfassung, die von allen Mitgliedsstaaten in einer Volksabstimmung gebilligt werden müsste.

Wilfried Rahe, Mühldorf

Keine Lösung, nirgends

Die EU hat in ihrer aktuellen Verfassung keine Zukunft. Dieser Befund hat aber nichts mit dem Karlsruher Urteil, dem sogenannten schweren Schlag gegen die EU zu tun. Das Karlsruher Urteil kratzt nur an der Oberfläche der EU, der Dampfer EU hält weiter Kurs - er dümpelt allerdings in Richtung Untergang. Nirgends sind auch nur Ansätze zur Lösung der tiefen Strukturkrise der EU zu sehen.

Die EU befindet sich in einer existenziellen Krise, weil ihr demokratisch legitimiertes Parlament nicht zumindest über einen Haushaltsetat von einem hohen einstelligen Prozentsatz des EU-BIP verfügt. Weil ein von der EU offenbar so gewollter Steuerwettbewerb zu Steueroasen wie Irland, den Niederlanden, Luxemburg, Malta ... führt, die ihren Nachbarländern die Steuer abgraben. Weil die EU-Bürger die EZB-Politik nicht verstehen, dass der direkte Staatsanleihenkauf bei den Staaten zwar illegale Staatenfinanzierung ist, jedoch der Ankauf über Dritte nicht nur legal ist, sondern offenbar auch die Lösung der Schuldenkrise beinhaltet: Warum kann die EZB nicht Billionen Euro in Staatsanleihen den Staaten über Dritte zu Verfügung stellen und sie auf immer und ewig zins- und tilgungsfrei in ihr Archiv stellen? Weil die Bürger nicht die Konsequenzen eines solchen Vorgehens verstehen. Weil die EU über keine für den Bürger nachvollziehbare gemeinsame Fiskal- und Sozialpolitik verfügt einschließlich einer "Fiskalverfassung" zum Haushaltsschutz und ohne die der Steuerwettbewerb zwischen den Staaten gefördert wird. Weil die Frage der gemeinsamen Euro-Bonds ohne eine "Fiskalverfassung" nicht gelöst werden kann und wieder verschoben wird. Weil die EU nicht in der Lage ist, Alphabet Inc., Apple, Facebook, Amazon und Microsoft zu besteuern und Irland in diesem Zusammenhang sogar gegen die EU klagt. Weil es der EU nicht gelingt, eine gemeinsame Finanztransaktionssteuer einzuführen. Weil die Einstimmigkeitsregel zur Entscheidungsfindung in Etatfragen gilt statt einer qualifizierten Mehrheitsregel. Weil Deutschland durch einen empörenden Leistungsbilanzüberschuss Arbeitslosigkeit in die EU exportiert und dieser Überschuss zu Lasten der eigenen Arbeitnehmer erzielt wird etc. etc.

So gibt es den Staat Europa noch gar nicht - in Europa kämpft ein Nationalstaat gegen den anderen. Solange es keine gemeinsame Steuer- und Sozialpolitik gibt, wird es so bleiben. Das Karlsruher Urteil ist für Europa nur ein kleiner Kratzer, die Strukturkrise allerdings führt aller Wahrscheinlichkeit nach zu einem Totalschaden.

Dr. Lothar Sowa, Rohrenfels

Abstrakte Konstruktion

Die EU ist längst ein Staat. Aber wer will das schon zur Kenntnis nehmen? Die öffentliche Meinung will nicht anerkennen, dass das europäische Gemeinwesen ein Vielvölkerstaat mit einem Rechtsraum ist. Im Grunde fehlt diesem Staat noch Wesentliches zur eigenen Sicherheit, und er ist so abstrakt konstruiert, dass heute einige Politiker und - mit Verlaub - selbst höchste Richter seine Existenz nicht wahrnehmen. Vielleicht hilft da der Hinweis, dass die EU eine eigene Staatsraison besitzt. Und wer gegen diese Staatsraison verstößt, politisch den Eigennutz übersieht, also gegen die eigenen Interessen handelt, begeht politisch eine Torheit. Er zerstört die Grundlage unserer Existenz.

Marcell von Donat, München

Neu denken

Europa als Raum des Rechts, als Rechtsordnung und Rechtsgemeinschaft ist ein kristallin formuliertes Ideal. Dieser Traum wird von der "Mäkelei" des Verfassungsgerichts untergraben? Der Meinungsbeitrag versäumt es leider, den Grund zu beleuchten, warum die einen europamüde, die anderen unwillig sind, das Haus Europa zu erneuern. "Europa als Haus mit vielen Zimmern": Hat diese Rechtsgemeinschaft des Staates Europa nicht Zimmerordnungen erlaubt, in denen Obristen Griechenland regierten, ist die Zimmerordnung mit ekelerregendem Pfeilkreuzer-Antisemitismus in Ungarn akzeptabel, ist die alle Regeln verletzende Manipulation der griechischen Staatsfinanzen vergessen, mit deren Hilfe sich Griechenland ins Haus Europa schwindelte? Deutschland und die Niederlande stehen am Pranger der Hausgemeinschaft, weil sie ihre Zimmerordnung einer sauberen, durchsichtigen Haushaltspolitik als grundlegend für die Haushaltspolitik der Hausgemeinschaft einfordern. Die Einstimmigkeitsbestimmungen aus der Gründungszeit der EU waren zwingend, um die Kleinen vor den Großen zu schützen, um ihren Glauben an ein sicheres Europa nach einem alles verwüstenden Krieg zu stärken. Heute sind sie zum Werkzeugkasten nationalistischer Rückwärtsgewandter geworden, die Reformen verhindern müssen, um an der Macht zu bleiben.

Der Grund für ein sich vereinigendes Europa muss nach Jahrzehnten des gesicherten Friedens neu gedacht werden. Ein flüchtiger Anstrich in diesem oder jenem Raum würde die "wirre europäische Geschichte" nur fortschreiben. Für eine tragende Sinngebung des Sinnlosen braucht Europa Mutige.

Walther Grunwald, Berlin

Überfällige Entscheidung

Die europäische Klasse hat sich eingerichtet mit einer EZB, deren Ziel es schon im Eigeninteresse ist, den Euro mit der Druckerpresse zu retten - what ever it takes = koste es, was es wolle. Die Kollateralschäden für die Kreditwirtschaft, die Altersversorgungssysteme und die Vermögenspreise werden einfach hingenommen. Irland, Griechenland und Italien wurden und werden mit der Notenpresse finanziert. Dasselbe geschieht nun mit der Corona-Krise.

Die europäischen Maastricht-Verträge zur Erhaltung der Stabilität der gemeinsamen Währung werden von der Mehrheit nicht ernst genommen. In den Südländern des Euro und in Frankreich herrscht eine Mentalität des Eigennutzes. Die Anpassung der nationalen Politik an die Stabilitätsbedingungen der Währungsunion kommt nur in wenigen Euro-Mitgliedsländern voran. Eine immer engere Union stößt an Grenzen, weil das demokratische Legitimationssystem im Staatenverbund der EU dafür nicht gerüstet ist. Ein EuGH, der die EZB bei der Missachtung der Interessen ihres größten Miteigentümers einfach gewähren lässt, schwächt seine eigene Legitimation. Eine EZB, die hemmungslos Staatsfinanzierung betreibt, gefährdet das europäische Einigungswerk. Für die europäische politische Klasse darf die EZB nicht der Problemlöser sein.

Die Entscheidung unseres Bundesverfassungsgerichtes war längst überfällig. Die Majorisierung deutscher Interessen in der EZB durch die strukturelle Mehrheit der Südländer und Frankreichs in den Gremien muss beendet werden.

Die rechtsstaatliche und demokratische Kontrolle des Handelns eines EU-Organs wurde durch das Bundesverfassungsgericht in dankenswerter Weise wahrgenommen - und durch den EuGH nicht. Es geht um die grundlegende Kompetenzverteilung im Staatenverbund der EU und dessen Legitimation. Die EU selbst ist kein Staat.

Rüdiger Vehof, Erfurt

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Quelle:
SZ vom 05.06.2020
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