Süddeutsche Zeitung

1994:Schamlosigkeit und Schwachsinn

Wie sich ein leitender SZ-Redakteur einmal Luft machte über Nackte im Englischen Garten, Jogger im Wald und weitere Zumutungen, welche die Gegenwart mit sich bringt

Von Jürgen Busche

Bei Bundestagswahlen ist die Kommentierung der 17-Uhr-Frühausgabe immer ein Problem, denn Hochrechnungen gibt es ja erst ab 18 Uhr. Womit also zunächst den Leitartikel füllen, der sich später der Wahl widmen wird? Mit einem "Platzhalter", wie es im Redaktionsjargon heißt, einem anderen Thema eben. Die kreativste Lösung jemals fand im September 1994 Innenpolitik-Chef Jürgen Busche, Jahrgang 1944. Für die erste SZ-Ausgabe dieses Tages verfasste er eine legendäre Philippika gegen Zumutungen der Gegenwart wie Nacktbadende oder Jogger, die er allesamt als "Selbstverwirklichungsidioten" schmähte. In der SZ-Redaktion wie in der Leserschaft löste der Beitrag gleichermaßen Befremden wie Begeisterung aus; so oder so ging er in die SZ-Geschichte ein.

Die heißen Tage dieser Jahreszeit zeitigen jetzt schon Folgen, deren Wahrnehmung düstere Gedanken provoziert. Die lang erledigte Vergangenheit, in der die Frage 'Wo soll das alles enden?' ironisch gestellt ein fröhlich-spöttisches Gelächter auslösen konnte, steht einem - nach dem Ende - plötzlich wie ein anderes, besseres Zeitalter vor dem geistigen Auge. Was man jetzt wirklich vor Augen hat, sind Menschen jeden Alters und Geschlechts, die mit ihrer Kleidung oder Nicht-Bekleidung sich rücksichtslos in der Öffentlichkeit bewegen, ohne daran zu denken, welchen Anblick sie ihren Mitmenschen zumuten. Nacktheit, nicht nur des ganzen Körpers, sondern auch etlicher Körperteile, ist nur in seltenen Fällen schön. In den meisten Fällen ist die Zurschaustellung eines nackten oder fast nackten Körpers eine peinliche Zumutung für den Betrachter. Im Gespräch kann dieser, wenn er ästhetisch empfindlich ist, nicht umhin, an der nackten Person vorbeizusehen; bei Spaziergängen durch Parks und über die hellen Plätze und Straßen der Städte kann man die Augen fast nur noch in den blauen Himmel richten, wenn man es nicht riskieren will, bereits nach wenigen Schritten von heftigem Übelsein angesichts der brutal enthüllten Häßlichkeit ringsum befallen zu werden.

Dabei ist offensichtlich, daß die Menschen, die ihre Häßlichkeit bloßlegen und in der Öffentlichkeit zur Schau stellen, gar nicht und niemanden provozieren wollen. Sie haben überhaupt keine Empfindung für das äußerlich Unangenehme ihres Auftretens. Korrekte Kleidung mag für sie oder ihre Vorfahren in der Vergangenheit eine Frage gesellschaftlicher Konvention, vielleicht sogar moralischer Wohlgezogenheit gewesen sein.

Damit ist es jetzt vorbei. Gesellschaftliche Konventionen gibt es nicht mehr. Die Moral ist Lieferant für politische Schlagworte, aber gehört nicht in die Lebenswelt des einzelnen mit seinem Glück. Daß Kleidung auch verdeckt, was der Mitmensch nicht sehen will - nicht weil es moralisch anstößig, sondern weil es ästhetisch abstoßend ist: Das kommt diesen Mehrheits-Exhibitionisten überhaupt nicht in den Sinn. Es ist sogar zu befürchten, daß sie eine Kritik an ihrem Äußeren als Diskriminierung, zumindest aber als anmaßend und intolerant mißverstehen.

Hier ist eine Indezenz selbstverständlich geworden, die tatsächlich einmal als die charakteristische Eigenschaft dieser Zeit erkannt werden dürfte. Den Leuten ist es gleichgültig, was sie anderen an Häßlichkeit zumuten. Was sie im Zuge ihrer Selbstverwirklichungsidiotien in die Tat umsetzen, gilt ihnen als sakrosankt.

Spuckend und schwitzend, keuchend und stöhnend

Man kann kaum noch durch einen Wald gehen, ohne früher oder später einem absurd gekleideten Jogger zu begegnen, der spuckend und schwitzend, keuchend und stöhnend für lange Augenblicke das Bild seiner Umgebung mit ihm selbst darin zu einer grotesken Karikatur verzerrt. Dieser Jogger wäre hoch erstaunt, wollte man ihn - gar noch vorwurfsvoll - darauf ansprechen, welche Zumutung es für andere bedeutet, ihm hier und mit solcher Aufführung zu begegnen.

Daß Menschen in der Kirche mitten im Hochamt aus der Reihe springen, sich vor dem Altar aufbauen und mit wichtigtuerischen Körperverrenkungen anfangen zu photographieren, daran mußte man sich schon gewöhnen. Doch auch der profane Bereich ist von schlimmen Zumutungen nicht unbeeinträchtigt geblieben. Wer will sagen, er könne die Innenräume bedeutender Kunstdenkmäler noch in der angemessenen Art auf sich wirken lassen, wenn diese überschwemmt sind von Exemplaren der Spezies Homo sapiens in der Erscheinungsform: zu viel fettes Fleisch, rot und schwitzend, braun und faltig, eingehüllt in zu wenig und zu dünnes Tuch, Popcorn und Eis fressend? Kluge Stadtverwaltungen entfernen, wo es geht, die Hinweisschilder auf die Sehenswürdigkeiten ihrer Städte.

Sigmund Freud hat einmal die Schamlosigkeit als das sicherste Indiz dafür bezeichnet, daß jemand schwachsinnig sei. Schamlosigkeit ist heute ein Begriff, der nicht nur im Sprechen über das Sexualverhalten seinen Platz hat. Schamlos kann etwa der Betrug sein oder die Jagd nach Vorteilen, wo immer sie erreichbar scheinen. Schamlos wird etwa ein Politiker genannt oder einer, der mit Fleiß Gesetzeslücken ausnützt. Schamlos erscheinen Arbeitgeber wie Arbeitnehmer, wenn sie das Verhältnis, in dem sie zueinander stehen, allzu einseitig zu ihren Gunsten zu gestalten suchen.

Dieser Mangel an Erziehung

Darüber läßt sich noch reden. Aber schon nicht mehr schamlos werden Arzt oder Patient genannt, wenn sie die Solidargemeinschaft über die Krankenkasse ausplündern; die finden schon Gehör, wenn sie sich auf ihr angeblich gutes Recht berufen. Schamlos will der berühmte Schauspieler, will die beliebte Schauspielerin nicht genannt werden, wenn sie vor großem Publikum verkündet, daß sie in den Monaten zwischen ihren hochbezahlten Engagements Arbeitslosengeld bezieht. Das Publikum stimmt jubelnd zu. Hier ist die Gleichzeitigkeit von Schamlosigkeit und Schwachsinn gesellschaftliche Realität geworden.

All das viele, was nach konservativen Begriffen als Mangel an Erziehung beklagt wird, steht hiermit im Zusammenhang. Keine der gesellschaftlichen Forderungen, die in der politisch korrekten Sprache immer wieder erhoben werden, kann Ernsthaftigkeit beanspruchen, wenn das Bild der Gesellschaft, in der sie erhoben werden, von solcher Schamlosigkeit gekennzeichnet ist.

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