Süddeutsche Zeitung

Energie-Embargo:"Frieren für die Freiheit" - aber nicht für alle

Lesezeit: 6 min

Nicht jeder stimmt Ex-Bundespräsident Joachim Gauck begeistert zu, wenn er für einen Stopp von russischen Öl- und Gaslieferungen plädiert. Manch einer empfindet seinen Aufruf als Zumutung.

"Frieren, Frieden, Freiheit" vom 11. März, "Es braucht noch mehr Sanktionen" und "Embargo mit Risiken" vom 19./20. März:

Nicht jeder lebt im Wohlstand

Ex-Bundespräsident Joachim Gauck im ARD-Talk bei Sandra Maischberger: "Wir können auch einmal frieren für die Freiheit." Friert er mit dem Volk? Die Wohlstandsverluste seien zu ertragen, sagte Gauck. Es fragt sich nur, für wen? Bevor er sich so äußert, sollte er sich erkundigen, wer in Deutschland schon lange nicht mehr am Wohlstand teilnimmt beziehungsweise noch nie teilgenommen hat. Das "Wir" zu verwenden, zeigt die Abgehobenheit des früheren Bundespräsidenten vom Volk. Da hätten wir die Corona-Winter im Freien verbringen sollen, um uns unsere Freiheit zu erhalten. Diese "Frieren-Freiheit-Aussage" ist einfach nur absurd.

"Wir können auch einmal ein paar Jahre ertragen, dass wir weniger an Lebensglück und Lebensfreude haben", so Gauck. Diese hat man einem erheblichen Teil des Volkes schon mit den Corona-Zwangsmaßnahmen genommen. Da muss man nicht noch was drauflegen. Deutschland sei ein sozialer Rechtsstaat, der für die am stärksten betroffenen Menschen sorge. Da sollte er sich wohl öfter in diesem Personenkreis bewegen und sich von der großen Sorge des sozialen Rechtsstaats überzeugen.

"Eine generelle Delle in unserem Wohlstandsleben ist etwas, was Menschen ertragen können", so Gauck. Das könnte er wohl am besten am eigenen Leib vormachen. Gesetzlich ist geregelt: Die Höhe des Ehrensoldes des Altpräsidenten bemisst sich an der Höhe der Amtsbezüge mit Ausnahme der Aufwandsgelder. Die Summe beläuft sich derzeit auf über 200 000 Euro pro Jahr. Hoffentlich entsteht hier nicht eine Delle, die den früheren Bundespräsidenten frieren lässt .

Walter Abel, Bad Endorf

Energie sparen hilft doppelt

Wohlstand oder Frieden? Wohlstand und Frieden geht wohl gerade nicht. Dem an materiellen Überfluss gewöhnten Konsumbürger wurde am 24. Februar plötzlich klar, dass es noch andere Werte als "ein Leben in Saus und Braus" gibt: Frieden und Freiheit. Wer auf den Luxus erst ermöglichenden Frieden nicht verzichten will und die Freiheit, seine Verschwendungslust von Zeit zu Zeit auszuleben, nicht in Gefahr bringen will, der sollte vorübergehend notwendige Einschränkungen in Kauf nehmen. Diese sind hier an den Fördertöpfen der EU wesentlich geringer als die Entbehrungen der gerade um Frieden und Freiheit kämpfenden Ukrainer jenseits der EU-Grenzen.

Joachim Gaucks Vorschlag, Einschränkungen im Energieverbrauch kühl in Erwägung zu ziehen, erscheint weniger "leichtfertig", als die gedankenlose Hysterie der Verwöhnten vom "Wohlstandsverlust" anzuheizen. Angesichts der enormen ukrainischen Opfer zeugt es von Zynismus, wenn man das Nachdenken über wenige Einschränkungen als ein "romantisches Bild von Opferbereitschaft" verhöhnt. Das "Gefühl der Hilflosigkeit" resultiert aus Tatenlosigkeit. Es entsteht im Boxring der Weltpolitik nur, weil Weicheier nicht den Mut haben, sich wirkungsvoll zu verteidigen. Dabei würde unser Verzicht auf russische Bodenschätze, also effiziente Energieeinsparungen, doppelt hilfreich sein: Putins Kriegskasse hätte weniger Geld und die Erdatmosphäre weniger CO₂.

Im Zeitalter der E-Mobilität sind ein paar verbrennungsmotorfreie Sonntage oder flutlichtfreie Fußballspiele kein "Wohlstandseinbruch". Demokratie muss Bestand haben, auch wenn einmal nicht Milch und Honig fließen.

Dr. Dietrich W. Schmidt, Stuttgart

Wasser predigen

Vielen Dank, dass Sie, Nico Fried, das Gauck'sche Wasser-Predigen nicht unkommentiert lassen. Es ist gar zu typisch für ihn, sich in ein "Wir" einzuschwindeln - denn nicht Seine Exzellenz werden frieren, wie Sie zu Recht feststellen; frieren und für ihn mitfrieren sollen die anderen "Wir" - der Eckrentner beispielsweise, der nach 45 Beitragsjahren den Groschen umdreht und nebenbei mit seinen Steuern den in fünf Jahren erworbenen "Ehrensold" des hohen Herrn finanziert - und andere Jubiliantia gleich mit. Denn was machte es für einen Eindruck, wenn Seine Exzellenz für den Sprit seiner Karosse selbst aufkommen müsste.

Ach, wie behaglich lässt es sich prinzipiengetreu in Moralität suhlen, wenn andere dafür zahlen. Und wofür war das Frieren noch mal gut? Für die Freiheit natürlich, die zur Phrase herunterkommen zu lassen dieser Herr sich zur Lebensaufgabe gemacht hat.

Herbert Albrecht, Laubach

Lieferungen sofort stoppen

Altbundespräsident Gauck hat gesagt, wir können auch einmal für die Freiheit frieren. Wir haben schon unsere Heizung heruntergedreht und ziehen manchmal eine Jacke mehr an. Trauen die Politiker der deutschen Bevölkerung so wenig zu? Bundeskanzler und Wirtschaftsminister haben immer wieder gesagt, dass ein Stopp der russischen Energielieferungen nicht möglich ist. Aber ich habe in dieser Zeitung mehrfach gelesen, dass wir auch ohne sie über den Winter kämen und dass wir erst im Herbst ein Problem hätten. Das hat der Wirtschaftsminister jetzt bestätigt.

Müssen wir mit dem Embargo wirklich warten, bis wir einen eigenen Flüssiggashafen haben? Wenn Wladimir Putin seine Energielieferungen heute einstellt, müssen wir auch zurechtkommen. In dieser Zeitung stand, dass es in Europa genügend Flüssiggasterminals gibt. Können wir diese nicht einstweilen nutzen? Auf einen eigenen Hafen zu warten kostet Geld und Zeit, beides haben wir nicht.

Ich finde den Gedanken unerträglich, dass wir mit den Zahlungen für unsere Energie Putins mörderischen Krieg finanzieren, während er versucht, sich ein Stück Ukraine nach dem anderen unter den Nagel zu reißen und dieses tapfere Volk in Schutt und Asche zu bomben.

Karl-Hermann Mühlhaus, Zorneding Pfarrer i.R.

Augenmaß ist gefragt

Der Präsident der Ukraine verlangt von Deutschland und Europa einen Stopp der russischen Erdgasimporte. Ich verstehe ihn in seiner Verzweiflung, doch weder kann die Nato aktiv in diesen Krieg eingreifen, noch können wir kurzfristig auf das russische Erdgas verzichten. Nicht nur Deutschland ist momentan davon abhängig, auch die baltischen Staaten, Finnland Italien, Österreich, Bulgarien und Polen. Wie Wirtschaftsminister Robert Habeck in einem Interview warnte, wird eine kurzfristige Einstellung dieser Importe für Deutschland weitreichende Folgen haben. Nicht nur dass die Bürger teilweise frierend in ihren Wohnungen sitzen werden, auch unsere Wirtschaft wird einen Niedergang erleben, wie es ihn seit Kriegsende nicht mehr gegeben hat.

Die Folge: Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit, hohe Inflation. Und wenn die Menschen frieren müssen, mit Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit, Inflation, Geldentwertung kämpfen, wird sich die Stimmung schnell drehen, die Unzufriedenheit wachsen. Natürlich müssen wir die Ukraine weiterhin unterstützen. Das ist jedoch nur möglich, wenn wir eine funktionierende Wirtschaft und genügend Mittel haben, um uns bei einem Wiederaufbau der Ukraine zu beteiligen. Es ist wohl nicht anzunehmen, dass wir Präsident Putin so in die Knie zwingen können, dass er die Wiederaufbaukosten übernimmt.

Dass wir uns mittelfristig befreien von den russischen Erdgasimporten, dürfte ohne Zweifel sein. Kurzfristig wäre das eine katastrophale Entscheidung nicht nur für Deutschland, sondern auch für ganz Europa. Ruhe und Augenmaß sind jetzt gefragt.

Helmut Schäfer, Kirchheim

Wichtige Eigeninitiative

Der Kommentar von Nico Fried zu den Kriegsfolgen für die Energieversorgung steht für die berechtigte Angst vor einer Eskalationsspirale mit ihrer nuklearen Dimension. Um eine Entwicklung dahin zu vermeiden, lehnt er ein Embargo von russischen Gas- und Öllieferungen ab. Entsprechende Forderung reduziert er auf eine naive Grundeinstellung einer "...in 80 Millionen zusätzliche Pullover gemummelten Schicksalsgemeinschaft". Auch wenn dabei zu Recht die Naivität von Gaucks Wortmeldung ("...frieren für die Freiheit") kritisiert wird, geht es im öffentlichen Diskurs des Embargos um mehr als "ein romantisierendes Bild von Opferbereitschaft". Die Kriegsrealität vor unserer Haustür hat eine breite Solidaritätsbewegung, aber auch allgemeine Verunsicherung ausgelöst. Eine gesellschaftliche Reaktion, die der Kommentar kategorisch entwertet, "...weil sie glauben macht, jeder Einzelne könne ... sogar helfen, Putin zu besiegen". Das ist aber der Fall und dringend erforderlich. Die Wichtigkeit von Eigeninitiative und gesellschaftlichem Engagement leben uns die Ukrainer vor. Wenn auch mit anderen historischen Erfahrungen und Einstellungen, setzt ihre Abwehr auch für uns die Wehrhaftigkeit der Zivilgesellschaft und politische Partizipation auf die Tagesordnung. Ein "Weiter wie bisher" kann es angesichts der neuen Weltlage nicht geben.

Die Embargogegner prolongieren eine gescheiterte Russlandpolitik, mit der Putin nicht weiter gereizt werden soll. Doch die europäische Friedensordnung und unsere Sicherheit ist durch diese Politik bedroht. Mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine hat der Westen zum ersten Mal ein Sanktionsregiment etabliert, das Russland empfindlich trifft und Putins Kriegskasse de facto gepfändet hat (Zentralbank). Ein Embargo russischer Gas- und Öllieferungen kann die neue strategische Ausrichtung nur stärken. Wer möchte schon verantworten, dass wir die russische Militärmaschine maßgeblich selbst finanziert haben, wenn morgen wir oder andere Nato-Staaten ihre Opfer werden.

Einschränkungen werden die fehlenden Ressourcen mit sich bringen, aber auch Chancen für einen gesellschaftlichen Diskurs, etwa hinsichtlich der Frage: Wie ein Leben in Freiheit führen und es verteidigen angesichts eines Angriffskriegs in Europa und in der lange tabuisierten und jetzt realen Gefahr eines Nuklearkriegs?

Christoph Liebherr, Berlin

Keine Alternative

Welches Argument haben Sie gegen ein Embargo von Energiekäufen in Russland? Welche Alternative schlagen Sie vor? "Es gibt noch andere böse Handelspartner auf der Welt", hilft nicht weiter. Ihr PseudoArgument, Gauck würde einfache Lösungen suggerieren, die es nicht gäbe, ist Unsinn. Einem Kriegsgegner nicht die Geldmittel zu zahlen, die er benötigt, um den Krieg zu führen, ist logisch. Dass man den Deutschen nichts zumuten darf, ist eine Einschätzung, die durch nichts zu belegen ist... Vielleicht sollte man auf Solidarität setzen und Putin in der Ukraine aufhalten; wenn er erst mal die baltischen Nato-Partner dran hat, sind wir mit drin. Man könnte die Folgen eines Embargos fiskalisch abfedern. Aber das scheinen Sie nicht erwägen zu wollen.

Ben Nupnau, La Hulpe/Belgien

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SZ vom 02.04.2022
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