Süddeutsche Zeitung

Deutsche Einheit:Interessantes Kunstwerk

In seinem Leitartikel zum 3. Oktober kritisierte Heribert Prantl, dass im Grundgesetz behauptet werde, die deutsche Einheit sei nun vollendet. Ein Leser meint dazu, etwas Unvollendetes könne doch auch interessant sein.

"Unvollendet" vom 2./3. Oktober:

Es musste schnell gehen

Der lesenswerte Artikel von Heribert Prantl zur "Deutschen Einheit" ignoriert die historische Gemengelage nach dem Mauerfall. Es gab in der damaligen Situation keine zureichende Möglichkeit zu einer plebiszitären Neufassung des Grundgesetzes. Der Autor stößt sich an dem Begriff "Vollendet", der sicherlich nicht die mentalen Unterschiede zwischen den Menschen in Ost und West betraf, sondern die Vereinigung der beiden 40 Jahre lang getrennten Staaten DDR und Bundesrepublik. Sicherlich hätte man die "Prüfungsfrist" zu Ergänzungen des jetzt für beide Länder geltenden Grundgesetzes nutzen können. Aber in der Tat musste 199o schnell gehandelt werden.

Man möchte sich die Enttäuschung der Menschen nicht vorstellen, wenn sie damals auf einen späteren Zeitpunkt für den Beitritt der DDR vertröstet worden wären. Die große Mehrheit wollte den Beitritt sofort und ohne Wenn und Aber. Auch jemand wie Günter Grass hat das seinerzeit nicht verstehen wollen und wurde von Rudolf Augstein öffentlich kritisiert mit der aus meiner Sicht auch richtigen Feststellung: "Günter, der Zug ist abgefahren."

Ob sich die in Jahrzehnten gewachsene rechtsstaatliche Tradition der alten Bundesrepublik mit der - wie Prantl schreibt - "demokratischen Autorität des revolutionären Wandels" tatsächlich hätte verknüpfen lassen, ist ungewiss. Die territoriale Vereinigung hat nicht nur für viele Menschen im Osten alles verändert. Auch in der alten Bundesrepublik haben wir uns auf diese neue Situation einstellen müssen. Und wenn man heute durch die sogenannten neuen Länder fährt, sieht man, dass Kohls "blühende Landschaften" ihr Gedeihen dem milliardenfachen Geldfluss von West nach Ost verdanken. Dass die Menschen in der früheren DDR das Ihre dazu getan haben, ist als enorme Leistung hoch anzuerkennen. Mitunter sollte man aber auch bedenken, dass unvollendete Kunstwerke gelegentlich weitaus bedeutender sein können als die scheinbar vollendeten. Es bleibt auf beiden Seiten noch viel zu tun. Und unser Grundgesetz als Schild des demokratischen Rechtsstaats bietet dazu die besten Voraussetzungen.

Wolf Scheller, Köln

Zerstörerischer Wechselkurs

Dolchstoßlegende 2.0: hier die im Wesentlichen leistungsstarke DDR-Wirtschaft, dort die gleichermaßen inkompetente wie bösartige Treuhand, deren Ziel es war, potenzielle Konkurrenten der BRD-Wirtschaft plattzumachen. Diese offenbar unausrottbare Legende ist genauso falsch und gefährlich wie die erste Dolchstoßlegende. Tatsächlich war der allergrößte Teil der DDR-Betriebe ineffizient und international nicht wettbewerbsfähig. Deshalb ist die DDR ja auch implodiert - ihr Wirtschaftsmodell hat schlichtweg nicht funktioniert. Es wäre ein Wunder gewesen, hätte die Treuhand keine Fehler gemacht. Und so manche Betrügerei wird wohl auch dabei gewesen sein. Im Großen und Ganzen aber war die Treuhand nur der Überbringer der schlechten Botschaft, für die sie stellvertretend geprügelt wird.

Den Todesstoß hat den DDR-Betrieben die Währungsumstellung zum Kurs von 1:2 versetzt, der politisch und von der DDR-Bevölkerung gewollt war. Ökonomen hatten vergeblich einen Wechselkurs von 1:7 bis 1:10 gefordert. Spätestens dadurch verloren die DDR-Betriebe 90 Prozent ihrer nun nicht mehr zahlungsfähigen RGW-Kunden und mussten selbst ihre "Rechnungen" (Lohnkosten, Rohstoffe, Vorleistungen, Schuldendienst) in DM begleichen. Und die Märkte im Westen waren hart umkämpft, sodass es jedenfalls kurzfristig nicht möglich war, hier im erforderlichen Maße Fuß zu fassen. Was wäre die Alternative gewesen? Dauersubvention der DDR-Betriebe, das alte DDR-Wirtschaftsmodell?

Prof. Stefan Müller, Neustadt

Anspruch und Wirklichkeit

So richtig, wie Heribert Prantl eine nachträglich in unser Grundgesetz eingefügte Schwindelei entlarvt, passen Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit auch schon aus der Zeit vor der Wiedervereinigung nicht zusammen. Was ist von dem Anspruch des Grundgesetzes, in dem es etwa heißt: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus; die Parteien wirken an der Willensbildung mit" denn eigentlich übrig, wenn der allgemeine Eindruck der Verfassungsrealität lautet: "Alle Staatsgewalt geht von den Parteien aus", was doch gerade nicht in unserer Verfassung steht? Ist dies nicht sogar die grundlegendere Schwindelei?

Willy Brandts "Mehr Demokratie wagen" wurde einstmals als zaghafter, aber wirkungsvoller Gegenversuch in meinem Wahlkreis durch enge und aktuelle Beteiligung der Bevölkerung vor wichtigen Entscheidungen noch aktiv praktiziert, er starb jedoch mit der Basta-Politik einen jämmerlichen Soforttod, dem alle sich nur demokratisch ziemenden Basta-Parteien so allmählich wohl nun konsequent folgen werden. Es ist traurig, wie wenig Ahnung unsere Demokraten an der Spitze offenbar von Demokratie besitzen.

Der fehlende und überhaupt nicht gesuchte Kontakt mit dem Gesprächsangebot für alle Bürger rächt sich nun allerorten in genereller Unzufriedenheit, vor allem wohl aus dem Gefühl des Sozial-Abgehängtseins, und äußert sich, wie eigentlich aus leidvoller Erfahrung eindeutig zu befürchten war, vor allem gegen alles Fremde. Dieser Wirkungsmechanismus sollte den Politkern eigentlich doch sehr bekannt gewesen sein? Hat sich unsere Demokratie schon wieder tot gelaufen? Ohne radikalen Kurswechsel sehe ich nun vielleicht schon bald 30 Minuten nach zwölf und es tut sich noch immer weiter: nichts!

Gerd Kirschenmann, Hamburg

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Quelle:
SZ vom 19.10.2018
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