Demokratieverständnis:Die Systemfrage

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Zwei Debattenbeiträge zur Corona-Politik und den freiheitseinschränkenden Maßnahmen haben großes Echo hervorgerufen. Der Ruf eines Autors nach mehr Autorität des Staates erntete viel Widerspruch, aber auch Zustimmung. Eine Analyse aus Lesersicht.

Auch Ausdruck von Demokratie: Protestler mit Warnweste bei einer Corona-Demo in Stuttgart. Manche Bürger empfanden die Corona-Maßnahmen als diktatorisch, andere forderten sogar noch strengere Regeln. (Foto: dpa)

Zu " Pandemie: Mehr Diktatur wagen", Gastbeitrag von Thomas Brussig vom 9. Februar sowie zur Replik von René Schlott: " Der Freiheit eine Gasse" vom 11. Februar:

Demokratie ist wie die Glühbirne

Die globale Gesundheitskrise rund um das Corona-Virus hat die Einschränkung von Freiheiten erforderlich gemacht, die zum Kernbereich unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung zählen. Diese Einschränkungen mögen zwar immer wieder als willkürlich und diktatorisch gebrandmarkt werden, sie sind es aber nicht. Alle Maßnahmen wurden von demokratisch legitimierten Entscheidungsträgern auf der Grundlage von Recht und Gesetz vorgenommen. Dass auch in dieser Krise von den grundlegenden Prinzipien unserer Rechtsordnung nicht abgewichen werden musste, zeigt die Stärke der demokratischen Verfasstheit unseres Landes.

Das Gegenteil der Demokratie ist die Diktatur. Unser Land hat im vergangenen Jahrhundert die schlimmste und eine der schlimmen Diktaturen durchmachen müssen. Wer sich mit der deutschen Geschichte befasst, weiß: Diktatur ist keine effiziente Spielart der Demokratie. Sie ist die Abschaffung der Demokratie! Wer wie Herr Brussig also glaubt, mehr Diktatur zu wagen, sei nun das Gebot der Stunde, geht gleich mehrfach fehl: semantisch, politisch und moralisch.

Demokratie ist wie eine Glühbirne. Wenn man sie abschaltet, wird es dunkel. Und ob sich in dieser Dunkelheit der Lichtschalter wiederfinden lässt, ist keineswegs sicher gestellt. Das Wort "Diktatur" sollte daher nicht dermaßen entstellt und naiv in den Diskurs um gutes Regierungshandeln eingeworfen werden. Es wird den tatsächlichen Herausforderungen nicht gerecht. Und erst recht nicht unserer eigenen Geschichte.

Paula Isabell Kramann, Achim

,,Ich doch nicht"

Herrn Brussigs Gedankenexperiment wäre zu präzisieren: Angenommen, die Infektion wäre das sichere Todesurteil für alle Alterskohorten? Nur, weil sie das nicht ist, scheinen sich Spielräume zu ergeben. Es ist die Kohorte der "Ich doch nicht", die die Öffnungsperspektiven fordert.

Gerhard Hübner, München

Bildung allein hilft nicht

Der Kollege Thomas Brussig hat die Kränkungen der Demokratie in der Gegenwart sehr gut zusammengestellt. Ich würde dem eine weitere hinzufügen: die Kränkung durch vergebliche Bildung. Seit Humboldt beziehungsweise Georg Picht glaubte man, die Menschheit durch Bildung auf eine moralisch höhere Stufe heben oder zu Demokraten erziehen zu können. Das ist schon in der Weimarer Zeit gescheitert, aber jetzt auch wieder, zu sehen an der Teilnahme vieler Akademikerinnen und Akademiker an den Querdenker-Demonstrationen.

Andreas Reuß, Bamberg

Schwächen des Systems entlarvt

Natürlich erscheint der Beitrag von Thomas Brussig als Provokation, und so ist er vom Autor sicherlich auch gemeint. Aber abgesehen von einigen drastischen und überzogenen Formulierungen ist an der Kernaussage, die der Text übermitteln will, "leider" Einiges dran. Daran geht René Schlott in seiner Entgegnung jedoch vorbei: Statt sich mit der Kernaussage auseinanderzusetzen und den Text als das zu verstehen, was er ist, nämlich eine Provokation, arbeitet er sich penibel an sämtlichen Einzelaspekten ab und zieht daraus letztlich die Konsequenz, Brussig wolle generell "die Systemfrage stellen". Brussigs eigene Position dazu ist in der Mitte der zweiten Spalte seines Textes nachzulesen: "Der Regelzustand bleibt die Demokratie, mit ihren Freiheiten und Grundrechten."

Derartige Reaktionen zeigen aus meiner Sicht, dass sich als (nicht selbstbewusste, sondern ängstliche) Antwort auf die Herausforderung durch AfD, Trump, Brexit & Co. derzeit eine Art Liberal-Demokratismus verbreitet, der die vorhandenen Schwächen und Widersprüche der liberalen Demokratie nicht nur ignorieren, sondern tabuisieren will. Das ist schade, denn wenn man sich diese Schwächen und Widersprüche bewusst machen würde, könnte man zugunsten der liberalen Demokratie daraus lernen - und um die Lernfähigkeit der deutschen Politik ist es gerade in der Corona-Krise offenbar nicht zum Besten bestellt.

Andreas Knoll, Poing

Gedankenspiel zur Reife

Brussig träumt von einer lebensbedrohenden Situation mit einem absolut tödlichen Virus und von einem starken Staat, der das exekutiert, was die Wissenschaft als das Richtige in dieser Situation vorgibt. In der SZ vom 11. Februar könnte Brussig nachlesen, wie dieser Traum real aussehen kann: Beamte in China, die aus Angst, etwas falsch zu machen, alle möglichen Untersuchungen und Tests an Menschen vornehmen, nur damit sie dann sagen können, wir haben alles an wissenschaftlich-medizinisch möglichen Maßnahmen exekutiert, uns kann man nichts vorwerfen.

Vielleicht träumt Brussig auch von dem Staat, der von den Spitzenwissenschaftlern aller Fachgebiete geführt wird. Brussigs Traum stößt in der Realität auf das Problem, dass epistemologisch aufgeklärte Wissenschaftler wissen, dass die Wissenschaftler zwar Expertise-Bausteine für Entscheidungen in Staat und Gesellschaft beitragen können, dass sie selber als Wissenschaftler aber durchaus nicht privilegiert zu Entscheidungen in Staat und Gesellschaft befähigt sind. Zum Beispiel der Kenntnisstand der Virologie zu einem bestimmten Zeitpunkt ist das Ergebnis eines regelgeleiteten Diskurses und von Kontroversen. Also ist bereits in einem einzelnen Wissenschaftsgebiet die Eindeutigkeit des zu Tuenden nur vorübergehend. Bezogen auf das, was in Staat und Gesellschaft zu tun ist, ist die Eindeutigkeit des zu Tuenden noch viel weniger zielführend.

Brussig bringt das Beispiel mit dem absolut tödlichen Virus, um uns zu überzeugen, dass wir im Angesicht des Todes auch den Diktator akzeptieren würden, wenn seine Anerkennung durch uns das Überleben verspricht. Das erinnert mich an die Frage der Prüfungskommissionen für Kriegsdienstverweigerer in den 70er-Jahren, was der Verweigerer denn tun würde, wenn seine Schwester von Vergewaltigern bedroht würde und er, der Kriegsdienstverweigerer, in dem Moment eine Waffe in Griffnähe hätte. Ich denke, man sollte eine individuelle Extremsituation nicht dazu benutzen, allgemeine Regeln daraus abzuleiten. Man sollte aus dem Verhalten der Passagiere, die ihr Flugzeug zum Absturz brachten, damit die Terroristen es nicht zu einem Terroranschlag benutzen konnten, nicht die Regel ableiten, dass Menschen sich für das Gemeinwohl opfern müssen. Man sollte aus der Unterwerfung eines einzelnen aus Todesangst unter einen Diktator nicht die Regel ableiten, dass Todesangst kein Gebot kennt und aus der Demokratie heraus die Diktatur gewagt werden sollte, um zu zeigen, dass "Demokratien es hinkriegen".

Vielleicht ist der Beitrag von Brussig doch Satire, nämlich ein Test, um zu provozieren und herauszufinden, auf welche Resonanz in der augenblicklichen Situation solche, von Brussig lancierte Gedankenspiele stoßen: Ob die pandemische Bedrohung Menschen schon reif gemacht hat für die Diktatur oder ob die Demokratie "es hinkriegt", mit so einer Verführung fertig zu werden.

Andreas Hüwe, Gelsenkirchen

Angst machen hilft nicht weiter

Mein Eindruck war und ist, dass "man" (von vielen Mächten) darauf eingeschworen wurde, alles für gut zu befinden, was die Regierenden beschließen, und Widerspruch stets auf eine gewisse Konformität achten musste. Wenn dem einsam machenden Dissens aber so zugesetzt wird, wächst die Angst vor Missliebigkeit und Verachtung - wahrlich keine Stärkung des demokratischen Diskurses. Und wer in erster Linie Angst zum Motiv politischer Kommunikation macht und darauf Verbote erlässt statt rational nachvollziehbare Erklärungen zu geben, schafft ein Klima des Misstrauens, das den demokratischen Werten gefährlich werden kann (schreibt die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum). Daher mein befreites Aufatmen, wenn der Freiheit ein Gasse geschlagen wird.

Dr. Raimund Schramm, München

Diktatur des Egoismus

In den Beiträgen von Thomas Brussig: und von René Schlott spiegeln sich die gegensätzlichen Positionen einer längst überfälligen Debatte: Ist alles gut so in unserem Gemeinwesen oder bedarf es einer Revision im Verhältnis von individuellen Rechten und gemeinschaftlichen Pflichten, im Verhältnis von Staat als Vertreter des Gemeinwesens und der durch individuelle Egoismen geprägten Gesellschaft.

Brussigs vielleicht überspitzt satirisch gemeinte Überschrift bezieht sich auf die Schwerfälligkeit, mangelnde Effektivität und Unfähigkeit, politische Entscheidungen zu treffen. Dies könnte auch auf Probleme wie die Klimakrise, Grundwerte-Erosion in der EU oder die Flüchtlingspolitik bezogen werden. Möglicherweise ist der föderale Flickenteppich bei den Corona-Maßnahmen damit zu erklären, dass die Demokratie, die Herrschaft des Volkes durch Wahlen und Abstimmungen, eben auch das Streben nach Profilierung bei den verschiedenen Regierungen der Bundesländer, die Eitelkeit von Spitzenpolitikern oder den Populismus hervorbringt, zumal in Wahlkampfzeiten.

Beide Entscheidungsmechanismen, die Konsensdemokratie und die Mehrheitsdemokratie, werden in der Debatte um Corona-Maßnahmen unterlaufen.

Mehr Verbindlichkeit, mehr Einheitlichkeit, mehr Konsequenz, mehr wissenschaftliche Fundierung von Maßnahmen werden diejenigen, die sich dadurch eingeschränkt fühlen, immer als Diktatur empfinden, wie es viele Querdenker mit dem Wort der Corona-Diktatur charakterisiert haben. Die Pandemie, demnächst vielleicht die Klimakrise, werden genau den Widerspruch des zweiten Artikels der Grundgesetzes hervorbringen: Wenn hier der erste Satz von der Entfaltungsmöglichkeit des Individuums wichtiger genommen wird als der zweite Teil, der von Begrenzung der Freiheit und der Rücksichtnahme spricht, liegt der Satz "Der Freiheit eine Gasse" nahe.

Allerdings sahen die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse im 19. Jahrhundert anders aus als heute. Der Schritt zum Unwort des vergangenen Jahres von der "Corona-Diktatur" liegt da ganz nahe. Viele "Querdenker" versuchen mit dem Ruf nach Freiheit, unser Regierungssystem in Frage zu stellen.

Die individuelle Freiheit und damit der Egoismus in Wirtschaft und Gesellschaft waren nie so groß wie heute. Die Diktatur von Mehrheitsentscheidungen wollen diejenigen nicht akzeptieren, die rücksichtslos ihre Freiheit leben wollen. Das Recht auf "Freie Fahrt für freie Bürger" wird eingeschränkt werden, im Interesse der Mehrheit, des Gemeinwesens. Die Diktatur des Egoismus kann angesichts der bevorstehenden Krisen nicht die alleinige Norm hervorbringen.

Vielleicht führen zwei Ansätze aus der Konfrontation dieser beiden Positionen heraus: Aleida Assmann möchte die Menschenrechte durch Menschenpflichten ergänzt sehen. Und Christian Drosten formuliert in seiner Festrede zu Schillers 250. Geburtstag: "Je mehr ich mich als Individuum aus freien Stücken verantwortlich verhalte, desto weniger Anlass gebe ich dem Staat, ins gesellschaftliche Leben einzugreifen. Je unbedachter und egoistischer ich aber handle, desto eher muss der Staat meine Freiheit beschränken, um das Gemeinwesen wie auch das Wohlergehen der anderen Menschen wirksam zu schützen." Wenn Schlott am Ende sagt, das Virus kenne keine Staatsform, deshalb müsse jeder und jede die offene Gesellschaft verteidigen, geht er auf diesen von Drosten formulierten Zwiespalt gerade nicht ein. Wer anderes soll dann feststellen, wo Menschenrechte enden, was solche Menschenpflichten sind? Wer soll das Wohlergehen des Gemeinwesens schützen gegen Sonderinteressen, wenn nicht der demokratisch legitimierte Staat?

Wenn wir Bürgerinnen und Bürger nicht selbst in der Lage sind, die Krisen zu beseitigen, müssen wir uns (in einem demokratischen Prozess) den staatlichen Entscheidungen unterwerfen und von unserer Freiheit etwas abgeben, um durch mehr Sicherheit mehr Freiheit zu erlangen.

Hans Dall, Hamburg

Es liegt am Föderalismus

Mehr Diktatur wagen oder der Freiheit eine Gasse? Auch wenn es ein Zeichen funktionierender Demokratie ist, dass beide konträren Artikel in der SZ erschienen sind, so erscheint es mir, als würden beide an dem eigentlichen Kern unserer Pandemie-Krise vorbei reden beziehungsweise schreiben. Brussig sieht die Ursache in der Schwerfälligkeit und Unfähigkeit unseres Demokratiesystems, wohingegen Schlott meint, dass Demokratie alles möglich mache. Wenn ich an den nun seit dem Herbst die Bevölkerung quälenden Pandemie-Krampf denke, dann haben wohl beide Recht, und die Ursache liegt stattdessen in unserem Föderalismus, wo jeder Sandkastenbesitzer ein Mitsprache- und Entscheidungsrecht hat.

In dem gegenwärtigen Ausnahmezustand sollte es vielleicht eher heißen "Weniger Föderalismus wagen!" Ich bin kein Verfassungsrechtler - aber böte das Grundgesetz nicht dem Parlament die Möglichkeit in dieser Ausnahmesituation länderübergreifende einheitliche Pandemie-Pläne zu verabschieden? Ist das nicht letztlich auch die Ursache für die europäische Impfstoff-Einkaufs-Maläse? Es ist doch unstrittig, dass Europa an dem Einstimmigkeitsprinzip krankt. Wenn das EU-Parlament mehr Rechte gegenüber den nationalstaatlichen Sandkastenbesitzern hätte, wäre auch da vieles einfacher.

Jochen Döring, Haar

Licht und Schatten

Ja, die Demokratie hat Schattenseiten, ich habe die 50-ger und 60-ger Jahre vor 1968 noch in guter Erinnerung, wir waren eine autoritäre Demokratie. Ich möchte sie nicht zurück und tatsächlich war in den 70-ger Jahre ("Mehr Demokratie wagen", sagte Brandt) "das liberale Selbstbewusstsein auf dem Höhepunkt", wie Autor Brussig schreibt, und unsere Demokratie wurde für viele Menschen in der Welt sehr anziehend (und ist es geblieben). In der folgenden Zeit hat der Föderalismus mehr Befugnisse bekommen und zusätzlich fünf neue Bundesländer, was jetzt schwierig ist, weil sich grundsätzliche Erfahrungen und unterschiedliche gesellschaftspolitische Einstellungen bemerkbar machen in dieser außerordentlichen Situation. Aber die als Vorbild genannten Länder sind aufgrund ihrer kulturellen Andersartigkeit und ihres Umgangs mit Teilen ihrer Bevölkerung keine Alternative und haben noch keine so lange demokratische Geschichte wie die USA und Großbritannien.

Hanne Adams, Kastellaun

© SZ vom 25.02.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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