„Mit dem Virus gegen die Meinungsvielfalt“ vom 31. August/1. September:
Die Covid-19-Krise legte etwas offen, was früher in der Gesellschaft auch vorhanden war, aber im Verborgenen blieb: Eine allgemeine Fortschrittsverdrossenheit bis hin zu fundamentaler Wissenschaftsskepsis. Es war und ist in der Tat ernüchternd, wenn man fünf auch angesehene Experten anhört und dann fünf verschiedene, teilweise vollkommen konträre Meinungen vernimmt. Das war es dann auch! Bleibt dann wirklich nur der Blick auf das eigene ebenfalls dogmatische Urteil und die eigene subjektive Erfahrung?
Eine der ganz großen Kulturleistungen der altgriechischen und neuzeitlich europäischen Aufklärung war das „rationale Argument“. Dieses gründet sich in der Regel wieder auf rationale Argumente und nicht nur auf Meinungen, Wünsche, Halbwissen oder subjektive Interessen etwa einer gesellschaftlichen Lobby. Was schon der angeblich weiseste aller Griechen, nämlich Sokrates erkannte, war die geradezu epochemachende Entdeckung, dass zu jedem rationalen Argument ein Gegenargument möglich sein muss; nein, nicht eines, sondern sehr viele. Es gibt eben nirgendwo im Erdendasein eine absolute Wahrheit – mit Ausnahme in ideologisch ausgerichteten Diktaturen – und auch nirgendwo ein utopisches Paradies, wie wir alle schmerzlich erfahren müssen. Meinungen, Dogmen, Informationen und Vorurteile, selbst Kommentare in Zeitungen, gibt es in unserer Gesellschaft geradezu in inflationärer Weise. Woran es fehlt, ist der Geist der Aufklärung, die humanistische Persönlichkeitsbildung: Respekt vor den anderen und deren Argumenten, deren Wissen und Kultur. Auch die parlamentarische Demokratie beruht keineswegs auf dem Recht einer Mehrheit über eine Minderheit, sondern auf einer Debatte, auf dem „sokratischen Dialog“ von Argument und Gegenargument. Wo dieser fehlt, gibt es keine Demokratie mehr, auch keine Kultur. Besinnen wir uns wieder auf das Wesentliche, das Humane in uns. Auch dieses bedarf der Bildung und Ausbildung an Schulen und Universitäten.
Dr. Johannes Hofer, Kindberg/Österreich
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