Corona:Die Wut der anderen

Alle diskutieren derzeit über eine Impfpflicht. Auch SZ-Leserinnen und -Leser. Gutes Recht der Geimpften, rufen die einen, übergriffig, warnen die anderen. Und wieder andere fragen sich, ob diese Pflicht überhaupt durchsetzbar wäre.

Corona: SZ-Zeichnung: Karin Mihm

SZ-Zeichnung: Karin Mihm

Zu "November des Zorns" vom 21./22. November:

Die leise Vernunft

Sieht der grandiose Kommentar bereits die "Wut der Vernünftigen" - oder hofft er darauf, dass sie sich endlich in unserer Gesellschaft angemessen Raum schafft? Es ist ja das Dilemma jeder Vernunft, dass sie nicht laut werden mag - und daher so oft von Unvernunft überbrüllt wird. Wohl nur höchst selten sind Menschen auf die Straße gegangen, um für strengere Vernunft-Maßnahmen gegen Corona zu demonstrieren; wohl aber gab es zuhauf lautstarke Protestaktionen dagegen.

Die Medien, auch diese Zeitung, müssen sich fragen lassen, ob sie nicht allzu breit darüber berichtet und so dem Protest übermäßig zu Gewicht und Gehör verholfen haben. Wenn vom Kommentator Kritik an der Politik geübt wird, ist gerade die Süddeutsche Zeitung dazu durchaus legitimiert. Hat sie doch schon seit etwa eineinhalb Jahren im Politik- und Wissenschaftsteil unablässig vor dem "Trugschluss" zu rascher Lockerungen und "weiteren großen Ausbrüchen" gewarnt.

Und doch ist Politik-Schelte allein zu kurz gegriffen. Wer jetzt das Ausbleiben von rechtzeitigen Schutzvorkehrungen beklagt, möge sich an die Stimmung im Sommer erinnern: Mahner wurden angesichts der gesunkenen Infektionszahlen nur verlacht. Und zwischen all den Warnungen gab es auch in der SZ durchaus gegenteilige Stimmen. So hieß es: "Die offene Gesellschaft wird erwürgt, um sie zu retten." Oder Kritik am "Dauerwarnsystem" und der Dominanz des Themas Corona.

Vor jeder Schuldzuweisung tut die Besinnung auf "mea culpa?" gut. So viele von uns tragen einen Teil der Schuld. Wenn im Lokal oder anderswo die Schutzvorschriften nicht beachtet wurden - wie viele von uns haben diese dann mutig eingefordert, nicht eingeschüchtert durch böse Reaktionen: von Beleidigung, Tätlichkeit bis hin zu tödlichen Pistolenschüssen? Wenn, wie vom französischen Präsidenten gefordert, allenthalben persönliche Eigenverantwortung und Solidarität praktiziert würden, bräuchte es keine politischen Maßnahmen - und weder die Wut der Vernünftigen noch die der Narren.

Peter Maicher, Zorneding

Grundgesetz diffamiert

Zorn ist ein berechtigter Affekt, es gibt den "heiligen Zorn". Wenn der Leitartikel der SZ aber fettgedruckt seinen Zorn über ein "kindisches Recht auf Ungeimpftsein" ausgießt, dann verunglimpft Hilmar Klute an prominentester Stelle der SZ die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik Deutschland. Solange keine gesetzliche Impfpflicht gilt, schützt unsere Verfassung die Entscheidungsfreiheit jedes Bürgers über medizinische Maßnahmen, die in seinen Körper eingreifen, auch wenn sie noch so vernünftig begründet sind. Das ist die geltende Rechtslage.

Herr Klute darf zornig darüber sein, dass sich bisher viele nicht impfen ließen, und auch nach staatlichen Zwangsmaßnahmen rufen. Das ist sein gutes Bürgerrecht. Das deutsche Grundgesetz und die gesetzmäßige Ordnung als "kindisch" zu diffamieren, kann aber nicht angehen. Ich bin erschreckt, welcher verbalen Verrohung die SZ ein Forum bietet und hoffe, dass journalistische Leitmedien nicht Grundprinzipien unserer Verfassung lächerlich machen.

Diese ist ein kostbares Gut - gerade in Krisenzeiten - und entstand als Konsequenz der Erfahrung des Nationalsozialismus. Wer Grundrechte als "kindisch" und Mitbürger als "impf- und ahnungslose Narren" diffamiert, sägt an den Grundfesten unseres Staates und des gegenseitigen Respekts, der jedem Menschen zusteht.

Georg Soldner, München, Kinder- und Jugendarzt

Freiheit ist unveräußerlich

Hilmar Klutes Ausführungen kann man bis in die Details nur zustimmen. Die Kernfrage der nächsten Wochen ist: Werden die Politiker den Mut aufbringen, eine allgemeine Impfpflicht durchzusetzen? Schon jetzt gibt es warnende Stimmen, die Verfassung verbiete eine allgemeine Impfpflicht. Artikel 2 lautet: "(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt." Für eine binäre Entscheidung Impfen ja oder nein muss der Staat dann auch die Möglichkeit beziehungsweise die Freiheit der beiden Grenzfälle abdecken: (a) Alle oder fast alle lassen sich impfen und (b) alle oder fast alle lassen sich nicht impfen. Fall (b) lässt sich jedoch aufgrund der gesellschaftlichen Konsequenzen nicht realisieren. Da jedoch gilt, entweder haben alle die Freiheit oder keiner, folgt daraus die Impfpflicht. Alle müssen sich impfen lassen, um (b) zu vermeiden. Die aktuelle Situation ist jedoch dadurch gekennzeichnet, dass die Impfunwilligen ihre Freiheit haben, weil sich 56 Millionen Bürger geimpft haben. Der Artikel 2 sieht jedenfalls nicht vor, dass eine Gruppe nur dann eine Freiheit (b) bekommt, wenn sich eine andere (mehrheitliche) Gruppe für (a) entscheidet. Die Freiheit aller ist unveräußerlich.

Artikel 2 lautet weiter: "(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden." Man kann also die Impfpflicht durch ein Gesetz zum Wohle aller verfügen.

Man kann aber auch Kants kategorischen Imperativ anwenden: "Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde." Soll also das "Nicht-Impfen" tatsächlich um einer vermeintlichen Freiheit willen ein allgemeines Gesetz werden? Wahnsinn. Kann man dagegen wollen, dass die Impfpflicht ein allgemeines Gesetz werde? Selbstverständlich, nach bestem Wissen und Gewissen - was empfehlen denn die Wissenschaft und die zuständigen Institutionen? Wir werden sehen, wie sich die Politiker verhalten. Das Vertrauen der Bürger in die Politik ist schon lange arg beschädigt.

Dr. Lothar Sowa, Rohrenfels

Wenig hilfreich, dieser Zorn

Herr Klute bemüht in seinem "Wort zum Sonntag" einen destruktiven Zorn, um etwa ein Drittel der Deutschen in Sippenhaft zu nehmen, es zu diffamieren und zu stigmatisieren. Und dann wundert er sich, dass dieser "November des Zorns" finster und hoffnungslos sei - mein Gott, wie albern! Der Autor sollte zur Kenntnis nehmen, dass das Grundgesetz klare Vorgaben macht, auf die sich jeder in diesem Land berufen darf, ohne dafür bedrängt und am Ende mental gelyncht zu werden. Diese Rechte sind unveräußerlich. Und diese gesetzliche Klarheit bringt schon Licht in die Finsternis. Man müsste sie nur anerkennen!

Warum eine Person noch nicht vakziniert ist, spielt keine Rolle: Die Gründe mögen in den Augen der anderen legitim sein oder nicht - sie sind nicht verwerflich. Das können sie auch gar nicht sein, weil diese von den unablässig Moralisierenden vorgebrachten Anfeindungen auf Parametern beruhen, die noch nicht einmal zwei Jahre hergeben. Im Rahmen eines solchen Zeitfensters eine Gesellschaft in gute Geimpfte und bösartige Ungeimpfte aufspalten zu wollen, ist nichts anderes als Hybris. Dieser Versuch verkennt die menschliche Natur und degradiert Menschen zu Robotern, die keine Gefühle haben. Nun, ich habe Gefühle: Ich habe Angst vor möglichen Nebenwirkungen, ich möchte, zum Beispiel, nicht eine Woche mit Fieber im Bett liegen. Zu diesen Gefühlen stehe ich, weil ich ein Mensch bin. Klutes Beitrag reiht sich in die immer gleichen Tiraden gegen Menschen ein, die einfach nur sie selbst sind. Wenig hilfreich, dieser Zorn!

Sebastian Bernard Dégardin, Hamburg

In Zeiten wie diesen

In der deutschen Politik wird zuviel "herumgemichelt". Die Kleinstaaterei in der Biedermeierzeit im Vormärz, sie ist wieder da. Schulmeisterlich, belehrend und von oben herab: "Es ist halt Pandemie", klingt es im Chor. Diese elende Krise könnte auch ein Lehrmeister für die ganze Bevölkerung sein. Aber die täglichen "Zahlmeister" der Pandemie vergessen die Menschen: die Kinder, die Jungen, die Kranken, die Schwachen, die Obdachlosen, die Mütter und Väter. Zuversicht und Hoffnung wird dem Land nicht vermittelt.

Da steigt schon mal einen Moment die Zornesröte ins Gesicht. Bürokratenwillkür hat Hochkonjunktur. Schwachherzige Politiker aller Couleur üben sich in Schönwetterparolen. Politische und wissenschaftliche Führung findet nicht statt. Die Expertise ist per se da, aber sie wird nicht genutzt und grenzen- und bedenkenlos in unendlichen Talkshows verschleudert. Der Arbeitsplatz des Forschers ist das Labor. Er braucht keine Quote. In ganz Deutschland ist derzeit Bodennebel. Obwohl jedes Kind weiß, dass im November Nebelzeit ist. Barmherzigkeit ist heutzutage zu einer "Outdoor-Veranstaltung" verkommen. Das Virus feiert Karneval und muss nicht erst bis nach Venedig fahren, um da im Maskenball seinen Totentanz aufzuführen. Das Virus wettet darauf, dass es auch dem Silbereisen zeigt, wo der Bartl den Most holt. Süffisant ließe sich sagen, dass wir bis drei zählen können und auch den Buchstaben G im Alphabet kennen. Doch das reicht nicht. Uns hilft auch nicht der friderizianische Ausspruch aus dem Siebenjährigen Krieg: "Wir werden uns solange herumschlagen, bis unsere verfluchten Feinde sich zu einem Frieden bequemen werden." Wir werden wieder mehr Verantwortung in unserem eigenen Leben übernehmen müssen. Eine Solidargemeinschaft ist keine Vollkaskoversicherung. Auch Trost und Hoffnung müssen wieder einkehren.

Dr. Detlef Rilling, Scharbeutz

Ein Lehrstück

Attacken auf Ungeimpfte haben in letzter Zeit in der Süddeutschen Zeitung leider deutlich zugenommen. Als Gymnasiallehrer könnte ich diesen Artikel ausgezeichnet verwenden, um meinen Schülern aufzuzeigen, wie dramatisch sich die öffentliche Meinung zuspitzt. Aufmerksame Schüler aus dem Geschichtsunterricht würden dann sicher leicht feststellen, dass hier ein Geist gerufen wird, den wir für überwunden gehalten haben. Der Artikel kreist zunächst einmal die Adressaten ein: die Deutschen, deren Wut er in der Folge begründet und deren Zorn er rechtfertigt. Zeitlich verortet wird das Ganze im "November des Zorns". Mir läuft dabei ein kalter Schauer über den Rücken. Sind wir schon so weit, dass in der Debatte zum Volkszorn gegenüber den Ungeimpften aufgerufen werden darf?

Gunnar Herr, Bendestorf

Wie trotzige Kinder

Ich bin für eine Impfpflicht. Warum auch nicht? Würden denn alle Kinder freiwillig in die Schule gehen, falls wir keine Schulpflicht hätten? Und wie trotzige Kinder verhalten sich Impfverweigerer. Kindern wegen Bedenken, Vorbehalten und aus Erzählungen den Schulunterricht erlassen, das überlegt und fordert ja auch keiner, zumindest keiner mit Vernunft. Das ist kein Verlust der Freiheit, wenn man sich eine Nadel in den Oberarm stechen lässt. Es ist aber ein Verlust der Freiheit, wenn man beatmet auf der Intensivstation liegt und man als ungeimpfter Corona-Patient Klinikpersonal zusätzliche Belastungen zumutet.

Claudia Rieg-Appleson, München

Die laute Minderheit

Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich die Politik viel zu lange mehr um das Wohlergehen der Ungeimpften als um das der vernünftigen Bürger gekümmert hat. Es ist auf jeden Fall ethisch unvertretbar, dass eine kleine, aber sehr laute Minderheit von uneinsichtigen Impfmuffeln die große Mehrheit der Geimpften und der bis über die Erschöpfung hinaus in den Krankenhäusern mit Covid-19 Arbeitenden tyrannisiert und verhindert, dass wir in ausreichender Zahl geimpft sind und damit aus der Pandemie herauskommen. In Portugal, Spanien, Italien oder Frankreich sind die Impfquoten hoch, das Leben kehrt zur Normalität zurück. Warum nicht endlich auch bei uns?

Dr. Dietrich Loos, München

Recht auf Leben

Endlich nennt mal jemand die derzeitigen deutschen Verhältnisse beim Namen: unerwachsenes, unreflektiertes Pochen auf ein Recht bar jeder ansonsten damit unabdingbar gekoppelten Verantwortung. Beim Recht auf die eigene Freiheit muss auch die Freiheit der anderen mitgedacht werden. Anmerkung am Rande: Freiheit ist zunächst ein politischer Begriff. Ignorantes Sich-Austoben wird davon nicht unter allen Umständen gedeckt. Unsere derzeitigen Umstände lassen solcherlei Haltung längst nicht mehr zu. Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (der anderen) ist dem von den Impfgegnern bemühten Recht auf Freiheit doch wohl überzuordnen.

Barbara Horn, Lörrach

Unrealistische Impfpflicht

Natürlich sollten sich alle sofort impfen lassen, wenn keine medizinische Indikation dagegen spricht. Aber eine Impfpflicht, wie sie mehrere Ministerpräsidenten derzeit ins Gespräch bringen, hilft nichts bei der aktuellen Bekämpfung dieser katastrophalen vierten Welle. Es dauert Monate, bis man alle Impfgegner ausfindig gemacht hat, und kostet wahrscheinlich mehr als nur Überredungskunst. Ich halte es auch für unethisch, Ungeimpften, die ja bekanntlich 70 bis 90 Prozent der Intensivbetten für Corona-Patienten besetzen, eine Behandlung im Krankenhaus zu verweigern. Dann dürfte man auch keinen Raucher aufnehmen. Aber es gäbe eine sehr elegante Möglichkeit, die sofort in ein Gesetz gegossen werden könnte und die ganz schnell helfen würde, weil sie die ideologischen Impfverweigerer genau da packt, wo es richtig wehtut: am Geldbeutel. Wer also ungeimpft wegen Covid-19 ins Krankenhaus kommt, muss seine oder ihre Behandlung selber zahlen. Wetten, dass deren Impfbereitschaft über Nacht exponentiell zunimmt.

Rainer Pippig, Neuried

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