Corona-Demonstrationen:Kalkulierte Provokation

Die zuletzt auf viele tausend Menschen anschwellenden Protestaktionen ohne Abstand und Maske gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung haben einige Leser empört. Manche zeigen Verständnis, fordern aber die Einhaltung der Regeln.

Querdenker und andere Gegner der Pandemie-Einschränkungen haben in Stuttgart ohne Abstand und meist ohne Schutzmaske dem

Problematische Zeichen des Protests: Teilnehmer einer "Querdenker"-Demo in Stuttgart, ohne Abstand und meist auch ohne Maske.

(Foto: imago images/Arnulf Hettrich)

Zu "Zu viel Spielraum" und "Von den Massen überrascht", beide vom 6. April sowie zu "Verheerendes Signal" vom 22. März:

Regeln brechen ist auch Gewalt

Es ist unglaublich, wie die Verantwortlichen in den Landesregierungen es hinnehmen, dass die Demonstranten bewusst gegen die Abstands- und Maskenregeln verstoßen. Damit wird es wieder unzählige unnötige Infektionen geben. Meine Anstrengungen und die Anstrengung aller anderen, die Ostern schweren Herzens auf Kontakte zur Familie verzichtet haben, werden so mit Füßen getreten, und zwar von den Demonstranten und allen, die ihnen tatenlos zugesehen haben.

Das Verhalten der Demonstranten war nach meinem Verständnis nicht gewaltlos, wie Polizeisprecher behaupten. Gewalt wird nicht nur mithilfe von Waffen ausgeübt. Das bewusste Brechen von Regeln war eindeutig gewalttätig. Es war ein absichtliches Vorgehen, das gegen die übrige Gemeinschaft gerichtet war und mit hoher Wahrscheinlichkeit zu gesundheitlichen Schäden der später infizierten Menschen im Büro, der Schule, dem Bus, den Geschäften führt. Gewalt, bei der die Demonstranten gewollt in Kauf nehmen, dass später unbeteiligte Personen infiziert werden.

Was bei diesen Demonstrationen immer wieder geschieht, hat nichts mit dem Recht auf Demonstrationsfreiheit zu tun. Es soll eine mit Massengewalt ausgeübte Machtdemonstration sein. Gegen eine Demonstration als Autokorso wäre absolut nichts einzuwenden. Es wird Zeit, dass der Staat hier die Regeln wieder durchsetzt.

Dorothe Propstmeier, Ebersberg

Nicht alle als Leugner diffamieren

Solange Medien hartnäckig polarisierend von 10 000 Corona-Leugnern sprechen, wird es schwer mit der Verständigung. Die Menschen leugnen nicht Corona, es geht ihnen um ein Mitgestaltungsrecht der Bürger, wie das Beispiel Schweden zeigt. Es geht darum, dass Politiker sich an runden Tischen mit Psychologen, Ärzten verschiedener Auffassungen, Eltern, Pädagogen und Sozialarbeitern zusammensetzen und ihre Entscheidungen demgemäß treffen und Virologen nicht die einzigen Berater bleiben.

Gabriele von Moers, München

Tödliche Toleranz?

Man darf fassungslos sein, wie städtische Behörden, Polizeiführungen und - nicht zuletzt - Richter das zentrale Grundrecht auf Demonstration bundesweit immer wieder demaskieren! Demonstrationen dieser asozialen "Querdenker"-Bande werden gestattet und dann praktisch konsequenzlos durchgewunken. Argumente? "Deeskalation" zwecks "Verhältnismäßigkeit"!? Hier dürfen Tausende rücksichtslose Quertreiber ohne Maske und Abstand per Vorankündigung ihrer schweren Verstöße gegen Auflagen in provokativer "Spreader"-Ignoranz das Grundrecht auf Gesundheit und Leben anderer schamlos verletzen. Unglaublich, dass dies in unserem Rechtsstaat toleriert wird. Aber auch viele bürgerliche Medien äußern sich mehr als zurückhaltend mit unmissverständlicher kritischer Kommentierung. Man beschränkt sich weitgehend auf die Wiedergabe von faktischen Abläufen dieser "Revolten". Solche Feigheit ist mir völlig unverständlich und konterkariert den existenziellen Kampf gegen die Pandemie. Es schürt geradezu die Polarisierung der Gesellschaft, weil das demokratische Demonstrationsfeld selbsternannten Rechtsbrechern in falsch verstandener Toleranz überlassen wird.

Richard Auer, Nürnberg

Viele Demos folgen einem Muster

"Egal, ob in Stuttgart, Kassel, Leipzig, Dresden - wenn Corona-Leugner absichtlich keine Maske tragen, Gewalt ausüben, dann wollen sie austesten, wie viel Spielraum Polizei und Politik ihnen geben." Damit dürfte Kommentatorin Antonie Rietzschel recht haben. Wer die Diskussionen vor und nach der Demonstration am 20. März in Kassel im entsprechenden Chat-Kanal bei Telegram verfolgt hat, stieß immer wieder auf Aussagen im Sinne von: "Wer gegen den Staat demonstriert, holt sich nicht beziehungsweise braucht nicht dessen Genehmigung."

Um was geht es bei einer Demonstration oder öffentlichen Kundgebung überhaupt? Die beiden Hauptzwecke sind: Erstens: der Transport einer Botschaft gegenüber dem (politischen) Gegner und Dritten. Und zweitens: die Selbstvergewisserung nach innen. Als langjähriger Vorsitzender einer regionalen Gewerkschaftsorganisation kenne ich das zu Genüge, etwa von Warnstreiks. Dabei geht es einerseits darum, dem Gegner ("Arbeitgeber") zu zeigen, dass die aufgestellten Forderungen ernst gemeint sind und man in der Lage ist, den Laden notfalls dichtzumachen. Und es geht darum, sich selbst, den Mitgliedern, das Bewusstsein zu geben, gemeinsam stark genug zu sein, den eigenen Forderungen Nachdruck zu verleihen. Es geht aber auch individuell darum, ein Gefühl der Gemeinsamkeit zu bekommen. "Ich stehe nicht allein, wir sind viele, die das Gleiche wollen. Dann muss es ja auch richtig sein, egal, was Dritte (Medien, Politik ...) auch dagegen argumentieren." Diese Muster greifen immer, nicht nur bei gewerkschaftlichen Demonstrationen, sondern auch bei allen anderen, ob originär politisch oder nicht.

Aber es gibt auch noch einen dritten Zweck, nicht immer, aber besonders dann, wenn es um Ziele geht, die sich gegen den Staat und seine Mehrheitspolitik richten. Eben die Selbstermächtigung: "Wir haben das moralische/politische Ziel. Weil der Staat das nicht sieht/sehen will, müssen wir es gegen ihn durchsetzen." Diese Form der Selbstermächtigung gab es schon bei den 68er-Demonstrationen im letzten Jahrhundert, beim Widerstand gegen die Wiederaufbereitungsanlagen in Wackersdorf, bei Sitzblockaden gegen Raketenstationierungen in Mutlangen (hier hat sich sogar das Bundesverfassungsgericht mit der Frage befasst, ob es sich um eine unzulässige Gewalttat handelt), bei Blockaden der Castor-Transporte oder bei Waldbesetzungen im Dannenröder Forst gegen die BAB A 49.

Immer handelt es sich darum, auszutesten, "wie viel Spielraum Polizei und Politik geben". Es gibt bereits seit langen dafür auch Bezeichnungen: "ziviler Ungehorsam" und "kalkulierter Regelbruch". Und immer wird ein - meist selbst definiertes - Recht auf Widerstand für ein höheres Ziel in Anspruch genommen.

Bei den 68ern ging es gegen den "Muff aus 1000 Jahren" und die Überbleibsel des Faschismus in den Apparaten. Bei Anti-AKW-Aktionen und Raketenstationierungen war es dann schon das Überleben der Menschheit, das solche Aktionen rechtfertigte, die weder durch das Versammlungsrecht abgedeckt geschweige denn durch die Versammlungsbehörde genehmigt gewesen wäre. Im Dannenröder Forst wurde erst gar keine Versammlung angemeldet, sondern fremdes Eigentum zum Allgemeingut erklärt, um das Weltklima zu retten. Dagegen sind Regelbruch (keine Masken aufzusetzen ist maximal eine Ordnungswidrigkeit) eher marginal und das Ziel (gegen eine angebliche Diktatur) herbei fantasiert. Andere Formen der Selbstermächtigung sind dagegen meines Erachtens deutlich kritischer zu sehen und haben mit zivilen Ungehorsams nichts mehr zu tun: nämlich dann, wenn für ein angeblich moralisch-politisch höherwertiges Ziel auch Gewalt gegen Menschen und Sachen eingesetzt wird, wie etwa bei den G20-Demonstrationen in Hamburg, den Gewaltexzessen gegen die EZB in Frankfurt, körperliche Angriffe von "Antifaschisten" gegen "Nazis" oder umgekehrt oder das Abfackeln von Autos von Immobilienmaklern.

So gesehen, ist die Selbstermächtigung der Demonstranten in Kassel oder Stuttgart zwar ein Rechtsbruch ( Versammlungsrecht), aber es bleibt eine "kalkulierte Regelverletzung", für die wohl individuell auch ein Bußgeld in Kauf genommen wird. Man kann das verurteilen, sollte dann aber diesen Maßstab ebenso bei anderen Regelverletzungen zur Selbstermächtigung anwenden.

Kurt U. Heldmann, Kassel

Schwerdenker

Querdenker wird man nicht von selbst. Zum Querdenker wird man ernannt. Diese Bezeichnung ist eine Auszeichnung. Querdenker sind Menschen, die etwas Neues oder etwas Originelles denken. Etwas, das im besten Fall die Gesellschaft voranbringt. Die Grünen waren, als sie erstmals in den Bundestag einzogen, Querdenker. Sie brachten das Thema Klimaschutz auf die Tagesordnung. Das war neu und das hat unser Land vorangebracht.

Die Querdenker, die wir kennen, haben diese Bezeichnung gekapert. Sie haben sich so genannt, weil sie dadurch weise wirken und als etwas Besonderes wahrgenommen werden wollen. Eine neue oder originelle Idee haben sie nicht. Im Gegenteil. Sie leugnen, dass es das Coronavirus gibt, und sie leugnen, dass es deshalb eine Pandemie in unserem Land gibt. Das ist weder neu noch originell, das ist anmaßend. Deshalb plädiere ich dafür, dass den Querdenkern - zu ihrem einjährigen Bestehen - diese Bezeichnung entzogen wird, dass sie von heute an anders genannt werden. Die Querdenker können sich nur schwer vorstellen, dass durch das Einhalten einiger Hygiene-Maßnahmen das Coronavirus gestoppt werden kann. Und sie können sich nur schwer vorstellen, dass sie, wenn sie ohne medizinische Maske dicht an dicht demonstrieren, das Leben ihrer Mitbürger gefährden. Weil sie sich das alles nur schwer vorstellen können, sind sie keine Querdenker, sondern Schwerdenker.

Klemens Hofmann, Marbach/Neckar

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