Süddeutsche Zeitung

Korrespondentin in China:"Komm, die hängen wir ab!"

Die Kommunistische Partei hat in China einen einzigartigen Überwachungsstaat aufgebaut. Das hat auch Auswirkungen auf die Arbeit als Korrespondentin: Manchmal hilft nur Gas geben oder eine Kommode vor der Tür.

Von Lea Deuber, Peking

Zuschriften von Lesern erreichen einen auch im fernen China. Zwar trudeln die meisten mittlerweile digital ein, manche Leser schreiben aber auch noch richtige Briefe. Letztes Jahr hat mir ein Leser eine Postkarte mit dem japanischen Wort Karōshi geschickt: Tod durch Überarbeiten. Das fand mein Chef besonders witzig. Die Karte hängt seitdem mahnend über meinem Schreibtisch.

Unter den Zuschriften findet sich Lob, aber natürlich auch Kritik. Darunter auch der Vorwurf, wir würden zu negativ über China schreiben. Die Anschuldigung ist nicht neu. Sie wird oft von offizieller Seite erhoben: Die Kommunistische Partei (KP) sieht sich als Opfer ausländischer Medien. Die Staatspresse beklagt eine antichinesische Verschwörung. Chinas ehemaliger Ministerpräsident Wen Jiabao soll Angela Merkel einst gebeten haben, die deutsche Presse doch bitte in die Schranken zu weisen, ganz im Interesse der deutsch-chinesischen Freundschaft natürlich. Die Bundeskanzlerin habe abgewunken. Er müsse sich nur mal übersetzen lassen, was man so über sie schreibe. Dann würde Wen schnell klar werden, dass auch die Bundeskanzlerin keinen Einfluss auf deutsche Journalisten hat.

Worüber man als Reporter in China schreibt, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten stark gewandelt. Als Korrespondentin ist man hier längst nicht mehr nur dafür verantwortlich, die Veränderungen in Politik und Gesellschaft abzubilden. Vielmehr begleitet man den Aufstieg einer neuen Supermacht - mit allen Spannungen und Konflikten. Hier in Peking streiten wir unter Kollegen mitunter recht heftig über unsere Einschätzung.

Die KP präsentiert ihr System aus Überwachung und Wachstum als Alternative zu Demokratie und Marktwirtschaft

Früher schrieb man über China und meinte ein Entwicklungsland auf dem Weg der Modernisierung. Heute schreibt man über China und blickt auf einen Staat, der immensen Einfluss auf die Welt ausübt - auch auf Deutschland, wo die eigene Freiheit der Maßstab ist. Denn die chinesische Regierung hat längst begonnen, Einfluss auf die Verhältnisse jenseits ihrer Grenzen zu nehmen. Die Kommunistische Partei stellt ihr System aus Überwachung und Wachstum als Alternative zu Demokratie und Marktwirtschaft dar, schwächt die Menschenrechte, unterwandert internationale Organisationen, spaltet die EU.

Nie war es wichtiger, China und seine Herrscherriege zu verstehen. Das Dilemma ist: Es war auch noch nie so schwierig. Politisch hat sich das Klima seit dem Amtsantritt von Parteichef Xi Jinping 2012 verschärft. Nichtregierungsorganisationen mussten aufgeben oder stehen unter strenger Beobachtung, halten sich von sensiblen Themen lieber fern. Professoren sind angewiesen, nicht mehr mit ausländischen Medien zu sprechen. Im vergangenen Jahr lehnte ein Dutzend Historiker Interviewanfragen zu einem Stück über den 100. Jahrestag der Bewegung des 4. Mai ab, der ersten politischen Massenbewegung in China. Erst nach Wochen erklärte sich ein Forscher bereit, ließ sich aber aus Angst nur ohne Namen zitieren. Der Druck ist inzwischen so hoch, dass es selbst bei politisch unumstrittenen Themen oder Erfolgsprojekten der KP schwierig ist, Interviewpartner zu finden.

Aktivisten, die sprechen wollen, müssen Angst haben, verhaftet zu werden. Durch die umfassende Überwachung der sozialen Medien und der Messenger-Dienste ist es zudem kaum noch möglich, Informanten zu schützen. Selbst wenn man für Recherchen sein Handy zu Hause lässt: Egal, wo man hinreist, werden die Passnummer gespeichert, das Gesicht gescannt, Bewegungsdaten aufgezeichnet. Vielerorts warten die Aufpasser schon, wenn man aus dem Zug steigt. Sie wissen, wohin man fliegt und an welchen Geschichten man arbeitet. Manchmal bleibt einem nichts anderes übrig, als im Hotelzimmer das Telefonkabel aus der Wand zu ziehen und eine Kommode vor die Tür zu schieben, wenn man wenigstens für ein paar Stunden Ruhe haben will vor den ungebetenen Besuchern.

Kaum irgendwo sitzen so viele Journalisten im Gefängnis wie in China

Beim weltweiten Ranking der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen ist China mittlerweile auf einen der letzten Plätze gefallen. Kaum irgendwo sitzen mehr Journalisten im Gefängnis. Während der Corona-Krise wurden zahlreiche Journalisten und Bürgerjournalisten verhaftet und verschleppt. Auch wenn die unmittelbare Gefahr für internationale Korrespondenten deutlich geringer ist, erhöht sich auch auf sie der Druck. Teilweise erhalten Journalisten nur noch Kurzzeitvisa mit einer Laufzeit von einem Monat. Üblich waren einst zwölf. In der ersten Jahreshälfte alleine hat China die Rekordzahl von 17 ausländischen Journalisten ausgewiesen, indem es deren Akkreditierung gestrichen hatte.

Im Nachtzug fragte mich letztens ein Mitreisender, ob ich wie die chinesischen Kollegen als ausländische Journalistin der Zensur unterliegen würde, also ob die Behörden meine Texte freigeben müssten, bevor sie in Deutschland gedruckt werden. Er wisse ja, die Liste an Tabus sei lang. Am Ende saß das Zugabteil zusammen, Chinesen aus allen Teilen des Landes haben von ihren Erfahrungen mit der staatlichen Zensur erzählt. In einem Dorf, eine Tagesreise entfernt von Peking, wo es weder fließend Wasser gibt noch eine Schule, fragte mich ein Bauer, ob ich ihm sagen könnte, was die Regierung alles aus dem Internet lösche. Ihm sei aufgefallen, dass da immer mehr verschwinde. Irgendetwas Wichtiges dabei, von dem er wissen müsse?

Viele Menschen haben sich an die Zensur gewöhnt, einverstanden sind sie damit deshalb noch lange nicht. Mehrfach bin ich von Aufpassern in ländlichen Regionen verfolgt worden. Und meine Fahrer, die ich meist erst am Bahnhof kennen lerne, geben dann Gas. "Komm, die hängen wir ab", sagen sie und biegen in die nächste Seitenstraße ein.

Journalisten sind sicher keine Superhelden. Aber wenn jemand sein Kind verliert, weil eine Firma verunreinigte Impfstoffe verkauft hat oder weil bei Bauarbeiten geschlampt wurde, dann gehört das aufgeschrieben. In Provinzen reagieren Regierungsbeamte häufig auch deshalb aggressiv, weil sie verhindern wollen, dass eine Recherche die Zentralregierung auf Missstände in ihrer Region aufmerksam macht. Das könnte sie den Kopf kosten. Eine Kollegin erzählte letztens, sie sei in einem Dorf angekommen, und die Einwohner hätten gerufen: "Endlich sind die Journalisten da!"

Gleichzeitig macht die Regierung immer unverhohlener klar, wo sie die rote Linie zieht. Sie markiert Themen, die Peking nicht lesen will: Xinjiang, Tibet und Geschichten über den chinesischen Staats- und Parteichef Xi Jinping. Seit diesem Jahr steht auch Corona auf der Liste. Im August verschickte das Außenministerium ein 43-seitiges Dokument, in dem es den Korrespondenten erklärte, wie sie über Hongkong zu berichten hätten. Geht es nach dem Willen der chinesischen Regierung, sollen Journalisten "positive Energie" verbreiten. Keine Nörgler sein, sondern Cheerleader der Politik.

Interview mit Ärzen nur unter staatlicher Aufsicht

Längst erzählt die Kommunistische Partei ihre Geschichte lieber selbst. In China, aber auch international. Dafür pumpt sie Milliarden in ausländische Sender, investiert in Medienkooperationen und ist mit eigenen Accounts in sozialen Netzwerken aktiv. Dass das schwerwiegende Folgen haben kann, zeigte sich Anfang des Jahres in Wuhan. Noch einen Tag vor der Abriegelung der Region ahnten viele Menschen in der Stadt nicht, wie ernst die Lage ist. Die Behörden hatten damals wegen eines lokalen Volkskongresses zwei Wochen lang keine neuen Fälle gemeldet. Die Medien sprachen lieber von Gerüchten, als die Menschen vor der Ausbreitung des Coronavirus zu warnen. Die einzigen Aufnahmen aus der Stadt lieferten nach der Abriegelung die Staatsmedien. Die sollten beruhigen. Ärzte aus Wuhan konnten nur unter Aufsicht von staatlichen Sicherheitskräften interviewt werden.

Die meisten ausländischen Medien beschäftigen in China lediglich ein oder zwei Korrespondenten. Mein Berichtsgebiet umfasst ein Fünftel der Weltbevölkerung, die Region ist größer als der europäische Kontinent. Ich schreibe über ein Land, in dem Hunderte Millionen Menschen umgerechnet von wenigen Euro in der Woche leben, in dem die meisten Millionäre wohnen, in dem die größten Tech-Konzerne der Welt sitzen. Dazu Xinjiang, der Großkonflikt zwischen den USA und China. Und Hongkong, wo ich im vergangenen Jahr Monate verbracht und die Straßenschlachten durch das Plexiglas meiner Gasmaske verfolgt habe. Es ist eine fast unmögliche Aufgabe.

Einen Anspruch auf Vollständigkeit kann es nicht geben, weshalb ich mich manchmal etwas trotzig auch als Peking-Korrespondentin bezeichne. Damit wäre ich immer noch für 20 Millionen Menschen zuständig, das sind doppelt so viele Einwohner wie in Österreich oder Israel leben. Besonders unmöglich kommt mir mein Job vor, wenn mich meine Kollegen fragen, was denn die Chinesen zu einem bestimmten Thema denken. Denken Sie mal an ein beliebiges Thema, nehmen wir die Maskenpflicht in deutschen Supermärkten, und dann sagen Sie mir, was die Deutschen dazu denken. Und Sie stecken damit nur 80 Millionen Menschen in eine Schublade, ich 1,4 Milliarden.

Ich reise durchs Land, unterhalte mich mit Experten, mit meinen Nachbarn, mit Freunden. Und ich lese viel im Netz. Aber so wie einzelne Beiträge in den sozialen Medien in Deutschland kein Stimmungsbild wiedergeben, so liefert auch in China der Blick in die sozialen Netzwerke keinen Eindruck von den Zuständen im Land. Außerdem wird auch dort zensiert. Vielleicht wird ein Thema diskutiert, weil es vielen Menschen am Herzen liegt. Vielleicht wird es nicht diskutiert, weil es so vielen Menschen am Herzen liegt, aber die Zensoren es schon aus dem Netz verbannt haben.

Zurück zu den Leserbriefen und dem Vorwurf, wir würden zu negativ über China schreiben. Der meistgelesene Text von mir war 2019 ein Essay über den Fleiß und Ehrgeiz junger Chinesen und warum Jugendliche hierzulande von ihnen lernen können. Aber ich denke bei der Frage auch an meinen Kollegen Pascal Nufer, der fünf Jahre für das Schweizer Fernsehen in Shanghai gelebt und gearbeitet hat. Er hat vor wenigen Wochen eine Dokumentation zu seinem Abschied veröffentlicht, eine Versöhnung mit diesem Land, wie er sagt. Chinas Streben nach dem perfekten Überwachungsstaat hätte ihn zunehmend zermürbt. Auf seiner letzten Tour durch China habe er sich deshalb auf die Suche nach dem "anderen China" gemacht. In seiner Reportage nimmt er sich noch einmal Zeit, lässt sich treiben, folgt seiner Haushälterin aufs Land, reist durch das Himalaja-Gebirge und trifft sich mit jungen Rockstars. Seine Reise erzählt auch von einem Schmerz, wie ihn viele Korrespondenten in diesen Tagen hier im Land spüren. Ein gebrochenes Herz, so fühlt es sich manchmal an, ist heute Teil der Jobbeschreibung. Vielleicht kann man das von Nufer lernen: dass man in all dem Wahnsinn nicht auf seinen Abschied wartet, um vom Zauber zu erzählen.

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