Chemnitz:Appell an die Vernunft

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Nach den Ausschreitungen im sächsischen Chemnitz entlarvt ein Leser die unsinnigen Verallgemeinerungen, die derzeit die Debatte bestimmen. Andere beklagen das Ausmaß an Hetze, das von der sogenannten Neuen Rechten ausgeht.

Auch das ist Chemnitz: Demonstrant gegen rechts. (Foto: Monika Skolimowska/dpa)

Zu diversen SZ-Artikeln und -Kommentaren über die Ausschreitungen im sächsischem Chemnitz:

Unsinnige Verallgemeinerungen

" Kubickis Unsinn" vom 30. August: Muss man bei allem, was irgendwie falsch läuft, nach einem Schuldigen suchen und diesen verdächtigen oder gar beschimpfen? - am besten: "den Staat" - "die Polizei" oder - noch besser: "die Regierung" - am allerbesten: "die Bundeskanzlerin"?

Da lese ich gerade in der Zeitung, dass Chinesen neuerdings vor Deutschland warnen, denn Deutschland sei ein unsicheres Land. Der Hintergrund: Irgendwo in Ostdeutschland sind zwei Chinesen ermordet worden. Natürlich ist jeder Mord schrecklich. Aber ist Deutschland, mit 80 Millionen Einwohnern deswegen so "unsicher", dass man vor einer Reise nach Deutschland warnen muss? Unsinn! - klar.

Aber was geschieht in Deutschland derzeit? Im Schnitt gibt es wohl täglich einen Mord in Deutschland. Und was machen "die Deutschen"? Sie sortieren sorgfältig: Ist der Mörder ein Deutscher? Dann ist der Mord keine Erwähnung wert. Ist der Mörder ein Mensch "mit Migrationshintergrund", wie es so unschön heißt, dann muss eine Meldung in die Zeitung. Ist der Mörder aber gar ein Asylant, dann ist ganz Deutschland in Gefahr - siehe Chemnitz. Da strömen ein paar Hundert Menschen aus ganz Deutschland - gut verabredet - in die betroffene Stadt und benehmen sich unmöglich. Und weniger die Radaubrüder werden beschuldigt für die Ausschreitungen - man hat fast so etwas wie Verständnis für sie - sondern wahlweise: die Polizei oder das Land oder gar die Bundeskanzlerin. Darf man das nun Unsinn nennen oder nicht? Vielleicht sollte man es. Sind denn die Radaubrüder nun "Stimme des Volkes"? Oder doch nur ein paar schwer fehlgeleitete Deutsche?

Und die paar Hundert Leute, die da randalieren, bringen angeblich ganz Deutschland mit seinen 80 Millionen Einwohnern in Gefahr - "Staatsversagen!" wird da gerufen. Als wenn es nicht ganz klar wäre, dass ein paar Hundert Menschen, die sich an einem kleinen Punkt zusammenrotten, der Polizei kurzfristig Schwierigkeiten machen könnten. Die Presse stürzt sich darauf und schlachtet den Vorfall weidlich aus, und manche Politiker versuchen, ihr Süppchen damit zu kochen. Wo bleibt da die Vernunft? Über die unsinnigen Verallgemeinerungen sollte man sich aufregen, nicht immer wieder über unseren Staat, der doch trotz mancher Fehler einer der besten ist, die wir auf der Welt kennen - und den wir je hatten.

Peter Reinhardt, Neckartenzlingen

Biedermann'sche Geistlosigkeit

Drei lange Jahre nach Kanzlerin Angela Merkels bekanntem und hinreichend diskutiertem Appell wird dieser immer noch - wider besseres Wissen - missbraucht. Offensichtlich wollen jetzt sogar vermeintlich seriöse Politiker austesten, wie viel absurden Populismus, Biedermann'sche Geistlosigkeit und brandstiftende Demagogie Deutschlands Demokratie ertragen kann. FDP-Vize Wolfgang Kubicki sollte seine Auffassung von (redlich liberaler) Oppositionsarbeit schnell und gründlich überdenken.

Matthias Bartsch, Lichtenau-Herbram

Hetze und Triumph

Der Gedanke ist schier unerträglich, dass die Katastrophe von Chemnitz letztlich durch ein Behördenversagen ausgelöst wurde. Bittere Ironie: Der Innenminister und oberste Dienstherr dieser Behörde - und damit in oberster Instanz verantwortlich - ist der Vorsitzende jener Partei, die noch vor wenigen Wochen geradezu eine Hetzjagd auf die Bundeskanzlerin wegen ihrer Flüchtlingspolitik veranstaltet hat. Das Triumphgeheul der AfD ist eine Konsequenz daraus.

H. Egon Held, München

Annäherung an 1933

" Einfach nur wow!" vom 5. September: Bundesaußenminister Heiko Maas hat vor Kurzem etwas in die Richtung gesagt: Wir müssen die Demokraten stärken, die auf die Straße gehen. Gemeint hat er wohl, dass wir alle mehr für unsere Demokratie tun müssen. Wenn sich dann allerdings hochrangige Generalsekretärinnen wie Annegret Kramp-Karrenbauer mit ihrer Kritik an unserem Bundespräsidenten und damit an uns allen nicht zurückhalten und gleichzeitig damit alle Demokraten in diesem Lande kritisieren oder auffordern, nicht weiter an "Gegendemonstrationen" gegen extrem Rechte teilzunehmen, so lässt das für Außenstehende nur die Schlussfolgerung zu: Die CDU-Generalsekretärin hat wohl gerade um ihre Aufnahme in das extrem rechte Lager gebeten. Zumindest kann man den Eindruck gewinnen. Daraus folgt: Bei der Zerstrittenheit der ehemals großen Parteien in allen wichtigen Fragen nähern wir uns immer mehr den Verhältnissen von 1933 an. Das Ergebnis ist bekannt.

Andreas Schneider, Heidelberg

Die, die Hass säen

"Kapitalfehler" vom 1./2. September: In der persönlichen Fragerunde mit Ministerpräsident Michael Kretschmer während der "Sachsen-Gespräche" wurde weniger über die rechtsradikale Hetze und Menschenjagden und deren Folgen für das Zusammenleben aller Menschen in Chemnitz diskutiert, vielmehr ging die Debatte zu dem, was viele der Anwesenden als die Ursache einer Tat wie der Tötung von Daniel H. ansehen: eine misslungene Einwanderungs- und Integrationspolitik. Eine Hypothese, die nicht beziehungsweise sehr schwer zu beweisen ist.

Die Tötung von Daniel H. rechtfertigt keine menschenfeindlichen Ausschreitungen, wie fremd aussehende Menschen zu jagen, was AfD-Chef Alexander Gauland rechtswidrigerweise "normal" und "Selbstverteidigung" nennt, noch die Diskriminierung von Menschen, die "anders" aussehen. Auch nicht, dem Staat das "Gewaltmonopol", wie Götz Kubitschek und der AfD-Bundestagsabgeordnete Markus Frohnmaier meinen, streitig zu machen. Die Tötung von Daniel H. rechtfertigt nicht, mit Neonazis in einer Reihe zu stehen und dann zu behaupten, "Ich bin kein Nazi!" Es rechtfertigt auch nicht, den Rechtsextremismus erneut kleinzureden, ihm mit einer mangelhaften Polizeitaktik entgegenzutreten und Menschenjagden zu bestreiten. Kollektivschuldvorwürfe stehen in Widerspruch zum Strafrecht moderner Demokratien und zum Artikel 33 Genfer Abkommen IV, die grundsätzlich von der individuellen Verantwortlichkeit ausgehen.

Götz Kubitschek, Vordenker der Neuen Rechten, sagte nach den Ausschreitungen am Montag: "Die Tat von Chemnitz und der als Reaktion darauf hochkochende Zorn haben den Riss zwischen Regierungshandeln und Volk, zwischen Realitätsverweigerung und gesundem Menschenverstand, zwischen Medienlügen und Augenzeugenberichten, zwischen Ost und West weiter vertieft." Die Gesellschaft spalten, Hass sähen, den Ausnahmezustand herstellen, das ist Ziel der Neuen Rechten. Diese Taktik der fremdenfeindlichen Provokationen hat nicht allein in Chemnitz die erwünschten Früchte getragen. Es wurde nicht nur der Hass gegen Fremde und Kanzlerin Angela Merkel befeuert und so die Spaltung in der Bevölkerung weiter vertieft, sondern Menschen mit Migrationshintergrund in Angst und Schrecken versetzt. Im Ergebnis, ein riesengroßer Kollateralschaden für die bisherigen Integrationsbemühungen nicht nur der Menschen mit Migrationshintergrund. Wie sagte Gauland? "Wir wollen es gar nicht schaffen."

Dr. Bruno Heidlberger, Berlin

Vorgebliche Sorge

Schön, dass es vor allem in Deutschland-Ost so viele um Ordnung und Sicherheit besorgte Bürger gibt. Wo aber war deren Besorgnis in Rostock, Hoyerswerda, Eberswalde, Dessau, Freital, in all den asylantenfreien Zonen, bei den NSU-Morden? Die vorgebliche Sorge bemäntelt zumeist nur Neid, Hass und Gewalt. Gewalt, die sich seit der Wende im ganzen Land ausbreitet, nicht erst seit 2015.

Richard Federlin, München

Unterm Strich geschieht: nichts

Es ist eine Unverschämtheit vom Außenminister Heiko Maas, das Versagen der Politik nun den Bürgern in die Schuhe schieben zu wollen und lapidar zu sagen, dass diese "vom Sofa hochkommen" sollen. Richtig wäre die Aussage: "Bürger werfen Heiko Maas und den Regierenden Bequemlichkeit vor", die vom "Schwätzen wegkommen" sollen. Dieses permanente Warnen, Appellieren und Drohen bringt zwar Schlagzeile, aber unter dem Strich geschieht nichts. Wie wäre es mit ernsthaften Aktivitäten, wie Gesetze zu überprüfen und zu ändern, Polizei rechtlich so auszustatten, dass sie bereits im Vorfeld eingreifen kann/darf. Erst dann, wenn Grundlagen geschaffen sind, dass auch der Bürger sich einmischen kann, besteht die Chance, die vorhandene Angst (nicht Bequemlichkeit!) vielleicht abzuschütteln. Maas und seine Kollegen/Kolleginnen fahren in panzersicheren Autos, begleitet von unzähligen Bodyguards, palavern an das Volk - und bewegen nichts. Aufwachen Herrschaften, die Uhr tickt in die falsche Richtung, und ihr verschlaft den gefährlichen Rechtsruck. Mir wird ganz schlecht.

Heribert Paul Ditges, Bergisch Gladbach

© SZ vom 07.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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