„Ampel-Störung“ vom 3. September, Kommentar „Es war eine Chance“ vom 4. September:
Ein vollständiges Bild, bitte!
„Das Erbe der großen Koalitionen – verrottete Infrastruktur, verschlafene Digitalisierung, verschleppte Energiewende und heruntergewirtschaftete Bundeswehr … Keines der tiefgreifenden Probleme Deutschlands ist von der Ampel geschaffen worden.“ Das wird viel zu selten festgestellt, auch die SZ hat sich lange Zeit damit begnügt, die gebetsmühlenartig wiederholten Schuldzuweisungen der Union – „Die Ampel ist schuld“ – wiederzugeben, anstatt sie zu hinterfragen.
So hatte sich Deutschland beim Erdgas nicht nur von einem einzelnen Lieferanten abgängig gemacht hat, sondern mit Russland pikanterweise von einem Land, das gleichzeitig der Hauptfeind der Nato ist. Selbst wenn die Weichen dafür in der Vergangenheit gestellt wurden, die Regierung Merkel hatte 16 Jahre Zeit, den Fehler zu korrigieren. Wirtschaftsminister Habeck und seine Grünen sind nun wohl am wenigsten für Deutschlands Abhängigkeit von fossiler Energie verantwortlich zu machen. Trotzdem verbeugte er sich tief vor dem Gas-Scheich, weil sein Amt es so verlangt, und verzichtet darauf, in jedem Nebensatz seine Unschuld an dem Dilemma zu bekunden. Ergebnis: Unsere energieabhängige Wirtschaft ist nicht zusammengebrochen, die Menschen sind nicht erfroren, und die Inflation ist auch wieder auf dem richtigen Weg.
Die Ampel mag Fehler gemacht haben, aber es waren kleine Fehler bei dem Versuch, die großen Fehler der Regierung Merkel zu beheben. Die Union hatte doch all die jetzigen Probleme unter den Teppich gekehrt – und jetzt wollen die sich als Retter in der Not aufspielen? Vier CSU-Verkehrsministern in Folge haben wir es zu verdanken, dass wir jetzt, wo wir ihn so dringend brauchen, keinen funktionierenden ÖV haben – und jetzt soll deren Chef Kanzler werden? Ihre Berichterstattung hat es zu lange versäumt, ein vollständiges Bild zu präsentieren. Ich bin nicht einverstanden.
Klaus Werner, Erlangen
Gescheitertes Experiment
Vor der Wahl im Herbst 2021 hatte niemand die Ampel auf dem Schirm. Die momentane Schwäche der CDU unter Armin Laschet und der überraschende Höhenflug des Kandidaten Scholz führten zu einer Koalition, die „Experiment“ zu nennen eine Untertreibung ist. Das Label „Fortschritt“ war eine Mischung aus Marketing und Autosuggestion, ermöglicht unter anderem durch Buchungstricks zur Umgehung der Schuldenbremse. Vielleicht wäre es möglich gewesen, sich auch ohne kreative Buchführung zu einigen. Das wäre eine solidere Basis gewesen. Aber die Begeisterung darüber, endlich mitregieren zu können beziehungsweise die „Richtlinien der Politik“ zu bestimmen, hat wohl die Kritikfähigkeit der Beteiligten getrübt. „Übergangsregierung“ ist eine erschütternd resignative Selbstbeschreibung. Ob etwas Besseres nachkommen wird, kann niemand sagen. Man muss es einfach hoffen.
Axel Lehmann, München
Die Ampel hatte nie eine Chance
Der Autor erwähnt dankenswerterweise einige Fakten der Historie der „Ampel“, die das Regieren erschwert haben. Dem möchte ich Folgendes hinzufügen: Levitsky und Ziblatt beschreiben am Beispiel USA in ihrem Buch „Wie Demokratien sterben“ (DVA, München 2018), was passiert, wenn Akteure im politischen Prozess die gegenseitige Achtung und den Respekt voreinander aufgeben. Der oft respektlose Umgang mit dem Kanzler und dem Vizekanzler und der gnadenlose Umgang der Opposition mit der Bundesregierung sowie die veröffentlichte Meinung in fast allen Medien zeitigen verheerende Folgen für unsere Demokratie.
Beispiellos in unserer Geschichte ist allerdings auch, dass die regierungsinterne „Opposition“ der FDP nahezu von Anfang an zerstörerische Wirkung hatte (Stichworte: Weitergabe des ersten Entwurfes des Gebäudeenergiegesetzes, Taurus-Diskussion, Schuldenbremse). Die Klage der Opposition gegen den Bundeshaushalt vor dem Bundesverfassungsgericht hat den Menschen und dem Land, der Wirtschaft und der Umwelt erheblichen Schaden zugefügt und wird weiter schaden. War es das wert? Wäre eine Zurückhaltung nicht besser gewesen? Zumal die Haushaltslage nach der Bundestagswahl weiter prekär bleibt und notwendige Investitionen in die Zukunft nicht finanziert werden können. Die ideologische Bekämpfung der Grünen, selbst nach den letzten Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen, ist verantwortungslos. Hinzu kommt das Zerstörungswerk der beiden stets bestens gestylten Bundespolitikerinnen aus dem extrem rechten und linken Lager. Eine Besonderheit bei uns. Die Ampel benötigt wenigstens in den verbleibenden letzten zwölf Monaten einen fairen Umgang. Denn es muss irgendwie weitergehen. Mit Achtung und Respekt, mit Verantwortungsbewusstsein und mit Würde. Sie hatte tatsächlich keine Chance. Trotz ihrer Erfolge.
Andreas Niedermeier, München
Beschränkter Horizont
Willy Brandt (Wandel durch Annäherung), Helmut Schmidt (Nato-Doppelbeschluss), Helmut Kohl (Euro) und Gerhard Schröder (Agenda 2010) waren als Kanzler politische Strategen, deren Planungshorizont den Zeitraum der Legislaturperiode bei Weitem überschritt. Auch rangierte im Zweifelsfalle das Land vor der Partei. Diese politische Kultur ist den Protagonisten in den Folgejahren leider abhandengekommen. Im Wesentlichen leben wir in Deutschland seit 2005 von der vor dieser Zeit geschaffenen Substanz, und der heutige Planungshorizont der Verantwortlichen reduziert sich auf die nächste Landtags- oder Bundestagswahl.
Da die derzeitigen Krisen, wie zum Beispiel Krieg in der Ukraine und im Nahen Osten, der Klimawandel sowie die Migration, das Regieren nicht leichter machen, wäre ein strategischer Blick „über den Tag hinaus“ nicht nur wünschenswert, sondern auch geboten. Denn ein „weiter so“ wie bisher ist nicht nur die beste Wahlwerbung für die AfD, sondern auch angesichts des Krisenszenariums und des Erstarkens der Feinde der Demokratie unverantwortlich.
Jürgen Rohlfshagen, Quickborn
Alles fließt
Der arme griechische Philosoph Heraklit muss mal wieder herhalten – mit seinen auf vielen Marktbrunnen zu findenden Worten: „Panta rhei – alles fließt“. Und genau das passiert gerade nach den beiden eigentlich nicht unerwarteten Landtags-Wahl-Hämmern. Dabei wird wieder die Bedeutung der Ampelfarben für jeden überdeutlich: „Gelb“ für die kürzeste Leuchtzeit, „Grün“ für Wegfahren und freie Fahrt zu Neuem und „Rot“ zwar für das längste Nichtstun und auch Ärger über den unfreiwilligen Stopp – aber auch für die große Chance zum Weiter-nach-vorn-Denken. Ich meine, dies müsste gerade jetzt im Gange sein. Ich hoffe, der notwendige gemeinsame Weg wird nicht mit gegenseitigen Vorwürfen alter Ampelschaltungen blockiert – ansonsten fällt mir dann nur ein: „Akropolis adieu!“
Stephan Hansen, Ergolding-Piflas
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