Sozialstaat:Für kein Bürgergeld der Welt

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(Foto: Karin Mihm)

Soll man Arbeitsunwilligen das Bürgergeld ganz streichen können? Und ist es richtig, dass auch ukrainische Geflüchtete die Sozialleistung bekommen können? Über das Bürgergeld wird gerade heftig diskutiert – auch unter den Leserinnen und Leser der SZ.

„Union will bei Wahlsieg deutlichen Kurswechsel“ vom 29. Juli, Kommentar „Eine populistische Forderung“ vom 19. Juli, Essay „Will ich auch!“ vom 22. Juni, Kommentar „Bürgergeld, auch für sie“ vom 19. Juni:

Faktenfrei

Die Union will nach Worten ihres Generalsekretärs Linnemann 100 000 Beziehern das Bürgergeld streichen. Deshalb stellen sich zwei Fragen: Hat Linnemann keine Ahnung oder lügt er bewusst? Das eine ist so schlimm wie das andere. Denn was Linnemann sagt, ist völlig faktenfrei. Bei 5,3 Millionen Bürgergeldbeziehern gab es von Januar bis November 2023 insgesamt 13 838 Fälle von sogenannten Totalverweigerern. Das sind im Durchschnitt genau 1258 pro Monat, wobei es Schwankungen gab – ganze 36 im Februar 2023 und Höchststand im Juli mit 2463. Es gibt also nur ganz wenige Totalverweigerer. Zudem werden Weigerung der Aufnahme oder Fortführung einer Arbeit, Ausbildung, Maßnahme oder eines geförderten Arbeitsverhältnisses statistisch zusammengeführt. Mehr als 80 Prozent der Minderungen werden wegen Meldeversäumnissen festgestellt. Das sollte natürlich auch Herr Linnemann wissen können.

Er weiß aber sicher, dass das Bundesverfassungsgericht im November 2019 entschieden hat, dass eine Kürzung von 100 Prozent nicht zulässig ist. Das Existenzminimum sei zu schützen. Kürzungen in Höhe von 30 Prozent seien vertretbar, 60 oder 100 Prozent aber nicht. Doch warum argumentiert Linnemann dann völlig faktenfrei gegen Totalverweigerer? Warum stellt er Forderungen auf, die nicht mit dem Verfassungsrecht vereinbar sind? Gilt die Verfassung und das Recht nicht mehr für arme Menschen? Sind arme Menschen Freiwild für die CDU, wenn sie bei Umfragen um 30 Prozent dahindümpelt? Wenn Linnemann die Zahl von 100 000 Totalverweigerern in die Welt setzt, ist das eine reine Luftnummer. Ihm fehlt fachliches Wissen, Ehrlichkeit und Respekt. Auch für eine CDU, die ihren Parteinahmen „christlich“ ernst nimmt, gilt das biblische Gebot: „Du sollst kein falsches Zeugnis reden wider deinen Nächsten.“

Sollte Herr Linnemann die Fakten nicht gekannt haben, dann sollte er sich bei den armen Menschen entschuldigen. Und wenn er sie kennt und dennoch so redet, dann ist es eine Art Volksverhetzung. Für die Abteilung „Volksverhetzung“ gibt es schon eine Partei im Bundestag, die in einigen Bundesländern über 30 Prozent erzielt. Wer sie bekämpfen will, sollte nicht ihrem Stil nacheifern.

Prof. Dr. Franz Segbers, Konstanz

Grundrechte al gusto

Bürgergeld für Arbeitsunwillige komplett streichen! Mit dieser Forderung stellt sich Herr Linnemann frontal gegen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Diese Legal-illegal-scheißegal-Haltung von Linnemann untergräbt den Respekt vor dem höchsten deutschen Gericht. Grundrechte al gusto, wie es gerade tagespolitisch passt, das ist ein gefährlicher „Kurswechsel“ in der CDU.

Ralph Bürk, Engen

Bürgergeld ausbauen

2010 startete ich als Elektrotechniker und Industriekaufmann meine Selbständigkeit, eine sogenannte Ich-AG mit Hilfe der Arbeitsagentur. In dieser Zeit trennte ich mich von meiner Ehefrau. Mein damals zehnjähriger Sohn sollte weiterhin seinen Vater haben. Er studiert heute und wir haben eine liebevolle Beziehung. Darauf bin ich sehr stolz.

Als Existenzgründer zahlte ich weiter in die Arbeitslosenversicherung ein. Immer wieder hatte ich Auftragseinbrüche, meldete mich arbeitslos, erhielt Arbeitslosengeld. Mein Anspruch auf Arbeitslosengeld I verringerte sich stetig. Mitte 2013 dann der Gang zum Jobcenter und damit der finanzielle und berufliche Absturz. Beruflich auch deshalb: Trotz publiziertem Fachkräftemangel konnte mir das Jobcenter keine einzige Stelle als Elektroniker oder E-Techniker anbieten.

Nach zwei Jahren und über zweihundert Bewerbungen erhielt ich durch eine Empfehlung eines DB-Mitarbeiters die Stelle als Servicetechniker. Sichere Arbeitsplätze und faire Arbeitsbedingungen sind die Schlüssel für zufriedene Mitarbeiter:innen. 40 Stunden in der Woche zu arbeiten, sollten mindestens die Grundbedürfnisse zum Leben, wie Essen, Kleidung und Wohnung garantieren.

Unternehmen, Handwerks-, Dienstleistungs- und Agrarbetriebe, welche über zu hohes Bürgergeld und zu hohen Mindestlohn jammern, brauchen Arbeitssklaven und keine Menschen, die in Würde arbeiten und leben können. Milliardäre wurden in der Corona-Pandemie reicher. Ja, die Reichen und Superreichen müssen sich an der inneren und äußeren Sicherheit viel stärker beteiligen. Die soziale Sicherung durch unseren Sozialstaat ist eine Grundlage für gesellschaftlichen Zusammenhalt und Zufriedenheit in Deutschland. Die einen leben in Saus und Braus und Millionen Bürgerinnen und Bürger kämpfen täglich um ihre nackte Existenz. Das Geld liegt bei den Reichen. Die Union soll endlich dafür sorgen, dass die Wohlhabenden im Land ihren gerechten Steueranteil zahlen, siehe Erbschaftsteuer! Bürgergeld ausbauen und Kindergrundsicherung ist das Gebot der Stunde!

Helmut Regnet, Kempten

Nicht christlich

Mit seiner Forderung, ukrainische Kriegsflüchtlinge in die Ukraine zurückzuschicken, wenn sie nicht arbeiten, sondern Bürgergeld beziehen, tritt Alexander Dobrindt in die Fußstapfen des damaligen CSU-Generalsekretärs Andreas Scheuer, der im September 2016 mit einer menschenverachtenden Äußerung über „fußballspielende, ministrierende Senegalesen, die über drei Jahre da sind, und die man nicht mehr los wird“ Stimmung gegen Flüchtlinge machte. Zwei Drittel der ukrainischen Flüchtlinge sind Frauen, davon viele alleinerziehend. Eine Partei, die fordert, diese Menschen in ein Kriegsgebiet zurückzuschicken, sollte das Wort „christlich“ aus ihrem Parteinamen streichen!

Sabine Vollmer, Celle

Flüchtlinge zweiter Klasse

Ihr Kommentator argumentiert: Das Bürgergeld für ukrainische Flüchtlinge muss weitergeführt werden, denn nur dann kommen die Menschen in den Genuss, all die Hilfen zu erhalten, die sie „fit machen können für eine Stelle: Sprachkurse, auch solche für ausgewählte Berufe, psychologische Beratung, Unterstützung zur Anerkennung ausländischer Zeugnisse, Stellenangebote. All dies steht für Asylsuchende so nicht zur Verfügung.“

Ich frage mich: Brauchen Asylsuchende keine psychologische Unterstützung und all die anderen angeführten Angebote? Sind sie weniger hilfsbedürftig? Kommen sie nicht aus kriegsgebeutelten Ländern, oft Krisen, die von westlichen Ländern verursacht wurden? Auch sie sind nicht „zum Arbeiten eingeflogen“, wie es zynisch heißt, sondern vor Verfolgung, Krieg, Misshandlungen geflohen.

Ihr Kommentator nennt zahlreiche Argumente dafür, dass wir genauer hinschauen sollten, ob das Bürgergeld für Ukrainer die Erfolge zeitigt, die es verspricht, das heißt: Sie werden in Arbeit gebracht (nein, das belegen die Zahlen), sie absolvieren erfolgreich Sprachkurse (nein, auch hier sprechen die Zahlen eine andere Sprache; Bundesrechnungshof: Jeder zweite Kriegsflüchtling aus der Ukraine bricht Integrationskurs erfolglos ab). Und besonders ärgert mich die Conclusio des Kommentars: Von Asylbewerbern verlangt der Gesetzgeber keine Mitwirkung bei der Suche nach einer Arbeit.

Das will er auch nicht. Erst nach vier Jahren Aufenthalt können Asylsuchende jede Beschäftigung aufnehmen. Die meisten, wie ich aus meiner Erfahrung weiß, wollen arbeiten, dürfen aber nicht. Können wir uns das leisten bei dem ganzen Arbeitnehmermangel? Asylbewerber werden als Flüchtlinge zweiter Klasse behandelt, und ihr Kommentator scheint damit kein Problem zu haben. Aber ich!

Nermina Regenfuß, München

Mehr als 563 Euro

Sehr geehrter Herr Kramer, Ihre Darstellung, dass man neidisch auf die Bürgergeldempfänger sei, ist extremst verkürzt und polemisch dargestellt. Es sind nicht nur 563 Euro monatlich, sondern auch die Wohnkosten, die übernommen werden. Das wissen Sie. Und Sie wissen auch, dass vielen, die arbeiten gehen, keine 563 Euro, nach Abzug der Wohnkosten, bleiben.

Gisela Kranz, Oberschleißheim 

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