Brexit:Die andere Sicht der Briten verstehen

Die Europa-Wahl in Großbritannien hat die Brexiteers zur stärksten Partei gemacht. Die Premierministerin hatte zuvor ihren Rücktritt angekündigt. Manche SZ-Leser sind konsterniert, andere zeigen Verständnis - May bekommt sogar Lob.

Zu "Der Nächste, bitte" vom 25./26. Mai, "Europa in der Krise" vom 16. Mai sowie zu "Ein Teil von uns" vom 25. April und "Erst Brexit, dann Dexit" vom 23. April:

Isolation zum eigenen Schaden

Inzwischen habe ich viele Berichte und Kommentare zum Brexit gelesen. Ich bin überzeugter Europäer, weshalb mich die Frage des Ausscherens aus dieser global wichtigen Gemeinschaft sehr bewegt. Was mich bei Großbritannien in diesem Zusammenhang sehr überrascht: Weder im Lande selbst aus dem Munde der Gegner noch bei Kommentaren ist je die Bemerkung gefallen, dass splendid isolation der Insel immer nur Schaden gebracht hat. Ich dachte immer, aus Schaden wird man klug ... Vielleicht sollte man wenigstens die jungen Leute auf diesen Gedanken bringen. Die Viktorianer sterben sowieso eines nahen Tages aus.

Johannes Köhler, Meißen

Professionelle Theresa May

Man muss kein Fan von Theresa May sein und ihrem Brexit, aber die Tränen zu ihren Abschiedsworten haben uns noch einmal gezeigt, wie überzeugt sie ihre Politik seit Jahren präsentiert hat, wie auch den unverständlichen Brexit. Sicherlich war es ihre Professionalität, nicht lautstark ihre Gründe für den Brexit zu verkünden. Schließlich wollte sie ja weiterhin mit Brüssel neue Vereinbarungen treffen. Da bleibt nur die Frage: Was macht uns mehr Sorgen? Mays Abschied - oder die Zukunft von Großbritannien?

Ich denke, um die Zukunft von May müssen wir uns keine Sorgen machen! Sie findet sicherlich in der Politik, wie auch in der Wirtschaft, einen neuen Job in der EU und weltweit. Wenn sich jedoch das Parlament in London mit dem Brexit und ohne neue Vereinbarungen mit Brüssel aus der EU verabschiedet, kann das keine guten Auswirkungen auf die Zukunft von Großbritannien haben. Hier müssen wir in den nächsten Jahren mit "königlicher Armut" im ganzen Land rechnen beziehungsweise auf der ganzen britischen Insel. Wahrscheinlich wird sich hier eine Inselpolitik entwickeln, denn auch von den EU-Staaten sollte man nicht mit finanzieller Unterstützung rechnen. Schließlich hat man sich ja mit Wut und Zorn von der EU verabschiedet.

Debatte online

Liebe Leserinnen und Leser, diskutieren Sie heute mit uns im Netz aktuelle Themen rund um die Europawahl: Welche Lehren ziehen Sie aus der Europawahl? sz.de/euwahl Lösen die Grünen die SPD als Volkspartei ab? sz.de/spdgruen Eine Übersicht unseres Diskussionsangebots im Netz finden Sie unter: sz.de/leserdiskussion

Somit können uns die Menschen in Großbritannien nur leidtun, vor allem die junge Generation, die keinen Brexit gewählt hat und ihre Zukunft in der EU sieht mit allen Vorteilen.

Vielleicht werden sich qualifizierte junge Briten auch in Deutschland um eine Staatsbürgerschaft und einen guten Job bewerben. Das sollte uns nur recht sein. Schließlich haben wir eine geschichtliche Verantwortung seit dem Zweiten Weltkrieg gegenüber den Briten. Hoffen wir das Beste.

Dirk Wanke, Kiel

Frauen haben es schwerer

Lady Brexit geht; und wir Frauen haben es immer noch schwerer, wie man gesehen hat, ob in der Politik oder sonst irgendwo. Von wegen alles very easy mit der Gleichberechtigung. Wir Frauen sitzen irgendwie noch immer (mehr) am kürzeren Hebel!

Riggi Schwarz, Büchenbach

Integration ist ein Prozess

Zum x-ten Male wird ermüdend über "Europa in der Krise" geschrieben. Dabei wird gerne übersehen, dass das Ziel Europa und die europäische Integration ein Prozess ist mit immer wieder auftretendem Auf und Ab. Das chinesische Schriftzeichen für Krise ist gleichbedeutend mit Chance - daher schreiben Sie doch bitte genauso engagiert über Europas Chancen!

Dr. Siegfried Richter, Ebenhausen

Kolonien wichtiger als Europa

Dank der klaren Sätze von Marcel Fratzscher im Gastbeitrag "Erst Brexit, dann Dexit" ist mein Europa-Bild wieder von einem Schleier befreit. Wir sind letztlich keinen Deut besser als die beängstigenden Unterhaus-Akteure. Immer wieder beweisen überdeutliche Farbtöne den alten Spruch: Wer meld't - der prellt. Da lobe ich mir die britische Denkkonstante.

Als Schüler konnte ich wiederholt in den Sommerferien den englischen Blickwinkel zu Deutschland, zu Europa bewundern: In den Köpfen schienen mir damals die ehemaligen Kolonien der Briten viel näher zu sein als das weit, weit entfernte Europa. Berlin-Themen schienen damals weit hinter Indien zu liegen. Zum Zeitpunkt des Ungarn-Aufstandes hatten wir gerade Besuch aus England. Ich war entsetzt: Erwachsene Engländer heulten plötzlich ganz fürchterlich, weil ihnen die Nähe zu Moskau auf einmal so deutlich wurde.

Brexit: SZ-Zeichnung: Fares Garabet

SZ-Zeichnung: Fares Garabet

Ich möchte allein aufgrund der letzten Unterhaus-Eskapaden feststellen, dass sich der britische Blickwinkel zu den europäischen Gegebenheiten seit meiner Schulzeit kaum geändert hat. Wir aber nach anfänglicher Bonner Bescheidenheit doch wieder fleißig dabei sind, mit viel zu großen Stiefeln und Besserwisserei das kritisierte "Kolonien-Denken" in einer veränderten Variante voll zu übernehmen. Ob wir die Gefahr dieser Wegrichtung noch rechtzeitig erkennen können?

Stephan Hansen, Ergolding-Piflas

Churchill missverstanden

Umfassend und kenntnisreich auf die Historie rekurrierend, plädiert Joachim Käppner in einem Leitartikel leidenschaftlich und nachvollziehbar dafür, die Briten als "Teil von uns, Teil der europäischen Familie" zu verstehen. Dass er aber fälschlich - wie viele andere auch - ausgerechnet Winston Churchill mit dessen Züricher Europa-Rede von 1946 als Visionär für die Vereinigten Staaten von Europa "unter der Patenschaft seines Landes" anführt, sei durch die entscheidenden Passagen aus dieser Rede veranschaulicht: "In der westlichen Hemisphäre gibt es bereits eine natürliche Gruppierung. Wir Briten haben unser eigenes Commonwealth. [...] Und warum sollte nicht eine europäische Gruppierung möglich sein, welche [...] zusammen mit anderen großen Gruppen bei der Bestimmung des künftigen Schicksals der Menschheit ihre berechtigte Stellung einnimmt? [...] Bei all diesen dringenden Aufgaben müssen Frankreich und Deutschland zusammen die Führung übernehmen. Großbritannien, das britische Commonwealth, das mächtige Amerika und [...] Sowjetrussland [...] sollen die Freunde und Förderer des neuen Europa sein."

Der von Autor Käppner ansonsten zu Recht gescholtene Boris Johnson hat seinen Churchill also gründlich gelesen und beruft sich insofern begründet auf die " glory days" Churchills, des Premierministers, der die Rolle seines Landes eben anders verstanden hat, als es Käppner suggeriert.

Jürgen Thiessen, Kalkar

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