"Der Gestrige" vom 9./10. Mai:
Das Positive sehen
Es ist mittlerweile eine Urteilsschablone geworden, bei Rudolf Steiner von einem "völkischen Hintergrund" zu sprechen. So auch in Catrin Lorchs Interview mit Beuys' Biograf Hans Peter Riegel. Riegel zitiert als Quelle den Volksseelenzyklus von 1910, in dem Rudolf Steiner die Völker Europas zu einer "Selbsterkenntnis als Volksseelen" aufruft und dazu einige Leitgedanken entwirft. Dieser Vortragszyklus in Oslo hätte nach Steiners rückblickendem Urteil den Ersten Weltkrieg verhindern können. Der praktische Beweis dazu ist, dass während des Ersten Weltkriegs Anthroposophen aus 20 verschiedenen Nationen in der neutralen Schweiz am Goetheanumbau einträchtig zusammengearbeitet haben, während rundherum dieselben Nationen sich mörderische Gefechte lieferten. Riegel als Biograf müsste eigentlich so fair sein, diesen und andere positive Beiträge Steiners zur Völkerverständigung zu erwähnen. Dann würde nämlich herauskommen, dass bei Steiner von einem völkischen Hintergrund oder gar von Rassismus nicht die Rede war.
Friedwart Husemann, Uplengen
Nie ganz verstanden
Schon zu Lebzeiten schieden sich an Beuys die Geister. Mittlerweile hat man sich nicht nur in Deutschland dazu durchgerungen, in ihm einen der bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts zu sehen. Ihm eine Nähe zum Nationalsozialismus zu unterstellen zeigt, dass er immer noch nicht richtig verstanden wird. Beuys wäre sicher der Erste gewesen, den die Nazis unter den Begriff "entartet" gefasst hätten. Sein ganzes Werk ist ein einziger Aufruf zur Freiheit, zur Menschlichkeit und damit eine Distanzierung zum totalitären System. Totalitarismus zeichnet sich dadurch aus, dass er alle und alles brachial erfasst, sodass es kaum ein Entkommen gibt. Daher sind wir Deutsche auch immer noch verstrickt, denn unsere Vorfahren waren alle mehr oder weniger Teil des Systems. Mit einer einfachen Distanzierung voneinander war und ist dem leider nicht beizukommen. Sonst hätte hier kaum noch einer mit dem anderen zu tun.
Dr. Suzanne Augenstein, Düsseldorf
Ein großer Menschenfreund
Beuys hätte mit jedem Halunken ein Bier getrunken und über die Zukunft des Planeten diskutiert, ob Nazi, Stalinist, Mafioso, Terrorist, Waffenhändler oder Diktator. So war er: ein großer Menschenfreund, aber kein Moralist. Man denke an seine spektakuläre Solidarisierung mit dem Gangster John Dillinger. Ich finde manches, was Beuys von sich gab, haarsträubend. Ich bin Pazifist, er war keiner. Ich stehe links, ihm ging die ganze Links-rechts-Geschichte am Allerwertesten vorbei. Mir waren Leute wie Henning Eichberg schon damals suspekt, Beuys hatte keine Berührungsscheu. Das schmälert aber nicht meine Bewunderung für den verrückten Kerl, der lachend alle Regeln brach und sich einfach nirgends einordnen ließ. Ihn interessierte nur eines: die Entfesselung der menschlichen Kreativität als Hebel zur gesellschaftlichen Neugestaltung. Vielleicht hätte er besser daran getan, nie das parteipolitische Parkett zu betreten. Aber Leute seines Schlags begehen lieber einen großen Fehler, als etwas unversucht zu lassen.
Wer sich an Beuys' Werk hält, statt ihn - selektiv - danach zu beurteilen, welche Kontakte er pflegte (die wohl wirklich durch alle politischen und sonstigen Lager reichten), weiß: Ihm eine rechtsextreme Gesinnung anzudichten, ist perfide.
Henning Köhler, Nürtingen
Die Wunden heilen
Geboren als Babyboomer in West-Berlin, habe ich Jahrzehnte im Nichtwissen um meine eigene Traumatisierung als Kriegsenkel gebraucht, um zu verstehen, was uns da emotional als Bürde und Last von unseren Vorfahren mitgegeben worden war. Und diese lange Zeit des Entdeckens und Verstehens ist ja auch kaum verwunderlich bei den von ihnen angewandten Strategien der Verschleierung. Wenn sogar versucht wurde, unbemerkt die jungen Grünen politisch zu unterwandern oder es gelungen zu sein scheint, mit der eigenen avantgardistischen Kunst verdeckte Botschaften zu transportieren, dann ist die Aufdeckung ihres Tuns wohl wirklich nur bei genauestem und intensivem Hinschauen möglich. Dafür danke ich all jenen, die daran auch heute immer noch mittun, und hier vor allem Hans Peter Riegel sehr.
Trotzdem hat mich Beuys' im Münchner Lenbachhaus ausgestellte Installation "zeige deine Wunde" immer wieder magisch angezogen; vielleicht war sie auch mit ursächlich dafür, dass ich meinen eigenen "Wunden" nähertreten, sie schließlich anschauen und heilen lassen durfte.
Stefan Groeger, Weimar