Süddeutsche Zeitung

Beleuchtung:Abgeseilt

Ob in Arztpraxen oder über dem Esstisch: Lampen an Drähten waren einst überall zu sehen, doch dann haben sie plötzlich ausgedient. Schade eigentlich.

Von Oliver Herwig

Vor ihnen gab es kein Entkommen. Sie lauerten in Arztpraxen, im heimischen Flur und manchmal sogar in Behörden, die sich dem Licht der Aufklärung verschrieben hatten oder einfach etwas menschlicher daherkommen wollten - wie etwa Standesämter, wo sie manchmal sogar mit den strahlenden Gesichtern der Gäste wetteiferten. Lichtseilsysteme waren Ausdruck neuer spielerischer Leichtigkeit, ja demokratischer Mitbestimmung in Sachen Leuchten-Design. Dahinter steckte ein einfaches Rezept, nicht unähnlich einer Pizza oder einem Burger. Jeder konnte sich aus den drei Komponenten Transformator, Seilzugsystem und einzelnen Leuchten die richtige, da individuelle Kombination zusammenstellen - sofern die Montage gelang.

Endscheidend war das Messen. Waren die Seile auch nur wenige Zentimeter zu kurz, wurde aus der Lichtinstallation an dieser Stelle nichts. Fünf Meter Seil ergaben dabei höchstens zweieinhalb Meter tatsächliche Länge, da es doppelt geführt werden musste. Systemlänge gleich halbe Seillänge - diese einfache Formel erwies sich nach dem Kauf als besonders vertrackt. Wer sich hier vermessen hatte, musste am Abend wieder eine Bauleuchte anstecken. Als Königsdisziplin galten Über-Eck-Verbindungen, bei denen das Seil die Richtung änderte, um verwinkelten Räumen zu folgen. Die Herausforderung: Beide Stränge sollten einigermaßen parallel weiterlaufen - ein Fest für Hobbymathematiker, Tüftler und Psychologen.

Der nächste Drahtseilakt beim Niedervoltsystem war die Montage des Transformators, der vom Monteur manchmal über Kopf angebracht werden musste, was meist lautes Fluchen mit sich brachte. Das waren oft klobige Teile, die in der Regel nahe dem Deckenauslass klebten und doch besser unsichtbar geblieben wären. Jammern galt aber nicht, schließlich sorgte der Transformator dafür, dass man die Seile gefahrlos anfassen konnte. Weglassen war keine Option.

Schließlich hieß es Leinen los, oder vielmehr: Seile spannen und die Enden kappen. Was dann folgte, lässt sich höchstens mit Weihnachten vergleichen, wenn der Baum endlich steht und mit Lametta und Baumschmuck behängt wird. Feuer frei. Für jeden Geschmack war etwas dabei: eckig und rund, tropfen- oder zylinderförmig, kugelförmig, halbrund oder als Quader. Bevorzugt zum Einsatz kamen Kombinationen aus Metall und Glas, vereinzelt wurden auch Messingleuchten oder diverse Goldtöne gesichtet. Es gab sogar geflügelte Teile.

"Viele setzen Licht völlig falsch ein", sagte Lichtdesigner Ingo Maurer

Die wenigsten hatten freilich den Witz und die Eleganz, die der Industriedesigner Ingo Maurer seinen Objekten mitgab. Iló-Ilú sah aus, als zöge die Raumsonde Voyager ihre Bahn direkt über den Gästen. Die Leuchte feuerte nach oben, ein Reflektor lenkte das Licht zurück. Mehr Kunstprojekt und Mobile als funktionale Erscheinung, das war für den großen Lichtkünstler ohnehin Prinzip. Beispielsweise verlegte er sich auf Fragen der Balance. Wie groß muss das Gegengewicht ausfallen, damit die Leuchte nicht abrutscht und zerschellt, scheint YaYaHo zu fragen. "Viele setzen Licht völlig falsch ein: Wenn etwa so ein Lüsterchen ziemlich hoch oben an der Decke hängt und die Dinge brutal und unnötig hell anstrahlt", sagte Maurer vor einigen Jahren. "Wir leben inmitten sinnloser Lichtverschwendung."

Verschwendung hieß zu den Hochzeiten der Seilsysteme, also Anfang der Neunzigerjahre, dass immer mehr Leuchten an der Decke baumelten. Grenzen setzte der Lichtvermehrung nur die Leistung des Transformators. Wollten die Gastgeber noch mehr Licht in der Diele, musste eben ein neues Gerät her. Auch das machte das System, einmal installiert, etwas träge. Zum Abhängen schön eben.

Rückblickend führte der Weg der federleichten Leuchten von der exklusiven Lichtboutique mit Beratung zur Grabbelkiste an der Kasse des Discounters, in der Komplettsysteme zu unwiderstehlichen Preisen landeten. Selbst für kleines Geld entfaltete das System noch seinen Zauber, schließlich waren die Teile einigermaßen modern, manchmal sogar minimalistisch - was im Kontrast zur ausladenden Couch oder einem schweren Tisch gut war. Noch in der einfachsten Ausführung blieben Seilsysteme flexibel und funktional. Handwerker mit gutem Augenmaß schafften es, mit einem einzigen Deckenanschluss ganze Wohnlandschaften zu beleuchten. Fortschrittliche Systeme ließen sich sogar dimmen und wechselten dann und wann ihr Erscheinungsbild. Einzelne Leuchten ließen sich austauschen und ergänzen, sodass nach einiger Zeit ein kleiner Gemischtwarenladen an der Decke schwebte.

Jedes Seilzugsystem hatte so etwas wie einen eingebauten Ewigkeitsanspruch. Was erstmal an der Decke angebracht war, blieb auch dort - und der Eichentisch darunter auch. Kein Gedanke, den Esstisch spontan zu verschieben. Ja, das Licht ließ sich etwas nachstellen, aber so richtig gut wirkte es doch nur direkt über den Tellern und Gläsern.

Lag es an Energiesparvorschriften, an einer optischen Übersättigung?

Vielleicht hatten wir uns irgendwann abgesehen an den Seilen, wollten wieder den Blick auf ein zentrales Leuchtobjekt, wahrscheinlich aber war es eine Kombination aus Energiesparvorschriften und einer gewissen optischen Übersättigung, die zu einem Bruch führte. Systeme der ersten Generation sterben einen langsamen Tod, weil Ersatzteile immer schwerer erhältlich sind, die Nachfolge treten Systeme mit LED an, die an Lichtausbeute und -farbe die Originale längst übertreffen, ganz zu schweigen vom geringen Verbrauch. Lichtseilsysteme wirken inzwischen etwas antiquiert - oder besser: zeitgebunden. Nicht, dass sie ganz verschwunden wären, aber ihre Dominanz haben sie eingebüßt, wie im Rückblick manches seltsam erscheint, was lange Zeit als völlig normal galt. So bleibt eigentlich nur ein Wunsch an die dritte Generation von Seilsystemen: Mögen sie wirklich fliegen lernen, befreit von Haken und Seilzügen, getragen nur durch etwas Luft.

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