Belarus:Lukaschenkos Verhalten ist menschenverachtend

Über das traurige Bild an der Grenze zu Polen sind viele SZ-Leserinnen und -Leser gleichermaßen schockiert. Doch wie die EU und Deutschland auf die Aktion des belarussichen Präsidenten reagieren sollen, wird unterschiedlich bewertet.

Forum 23112021

Ganze Familien übernachten auf ihrer Flucht in Belarus an der polnischen Grenze.

(Foto: Leonid Shcheglov/imago)

Zu "Der Ernstfall" vom 13. November und zu "Frost, Wasserwerfer und Warnschüsse" vom 11. November:

Notlage

Es bricht einem das Herz, wenn man die Nachrichten verfolgt und die Bilder dazu sieht. Was sind das nur für arme Flüchtlinge, welche jetzt am östlichen Grenzübergang zwischen Belarus und Polen ausharren müssen, weil der polnische Grenzübergang geschlossen wurde. Vor allem Frauen mit Kindern und alte Menschen, welche bei diesen eisigen Temperaturen frieren, nichts zum Essen und zum Trinken haben. Einige sind schon gestorben.

Es liegt jetzt an der EU, zu handeln und einen friedlichen, gemeinsamen Weg zu finden, um den Flüchtlingen dort aus ihrer Notlage, welche bis zum Himmel schreit, zu helfen und nicht die Augen zu verschließen. Kein Mensch, der noch nie einen Krieg miterlebt hat, weiß, was es heißt, ein Flüchtling zu sein!

Heike Rampp, Memmingen

Absolute Hilflosigkeit

Ist es wirklich erst der Anfang, wie Florian Hassel in seinem Kommentar meint? Von Seiten Lukaschenkos mit Sicherheit, wo er jetzt mit Ankündigung als professioneller Schleuser aktiv wird. Mit Mitleid erregenden Bildern im Fernsehen kann man dann leicht die öffentliche Meinung bei uns manipulieren.

Wer aber Migranten mit Militär an die Grenze eskortiert und mit Werkzeug versorgt, der kann ihnen auch Essen und Trinken und warme Unterkünfte bieten. Aber das möchte Herr Lukaschenko natürlich nicht. Lieber die Leute leiden lassen und den Deutschen ein schlechtes Gewissen machen. Die ungerechtfertigte Umleitung des Flugzeuges nach Minsk mit Verhaftung einer Person und auch Putins Aktivitäten geschehen alle nach dem gleichen Muster: Den Westen vorführen und in seiner absoluten Hilflosigkeit zeigen.

Ich frage mich, wann die deutsche Regierung und die EU einmal Ideen entwickeln, wie man zumindest der Migranten Herr werden kann. "Wandel durch Handel", wie man einmal glaubte, funktioniert offensichtlich nicht. Nationen, die wirtschaftlich voneinander abhängen, würden keine Kriege gegeneinander führen. Das ist im Prinzip schon richtig, aber es gibt offensichtlich Machtkämpfe und Konflikte, die man subtiler führen kann, ohne dass die Armeen gegeneinander antreten.

Burkhard Colditz, Sindelsdorf

Teufelskreis von Not und Flucht

Lukaschenko hat keine lauteren Motive. Ihn interessieren die Flüchtlinge überhaupt nicht, die er an die Grenze zu Polen bringen lässt, sie sind Kanonenfutter in einem zynischen Machtkampf. So weit sind sich alle einig. Aber viele Reaktionen aus Politik und Medien in Deutschland sind doch erschreckend: An der Grenze warten ein paar Tausend Menschen, also weder Heerscharen noch Drogen oder Waffen - und die stellen eine Bedrohung für die öffentliche Ordnung in der EU dar? Es rächt sich wieder einmal, dass sich niemand traut, den Teufelskreis von Not und Flucht und einer völlig irrationalen Flüchtlingspolitik zu durchbrechen.

Schon die vielen Toten im Mittelmeer und die von der EU mitfinanzierten Camps in Libyen waren und sind mit EU-Konventionen und internationalem Recht nicht vereinbar, und längst haben wir menschenrechtswidrige Situationen auch noch in Griechenland, in Bosnien und an der bulgarisch-türkischen Grenze. Sie machen seit Jahren deutlich, dass nur legale Transportwege den Teufelskreis durchbrechen können: Fährverbindungen über das Mittelmeer, Busverbindungen von der Türkei nach Deutschland und Flüge aus Afghanistan beziehungsweise seinen Nachbarstaaten. Dann werden Asylanträge und - vor allem - Verwandtschaftsverhältnisse geprüft und die Menschen auf die europäischen Städte verteilt, die sich dazu bereit erklärt haben - es sind Hunderte. Niemand müsste mehr nach Minsk fliegen, niemand im Mittelmeer ertrinken, und auch Griechenland und Italien könnten endlich signifikant entlastet werden.

Dr. Jens SchneiderInstitut für Migrationsforschung und interkulturelle Studien der Uni Osnabrück Die Politiker in Brüssel und Berlin versuchen sich im Falle EU beziehungsweise Polen gegen Belarus und Russland an der Quadratur des Kreises, die bekanntlich bis heute nicht gelöst ist. Lukaschenko und indirekt auch Putin führen die EU beziehungsweise Deutschland wie ein Landwirt seinen Stier am Nasenring. Aus diesem Grund wird es dieses Mal (wie es auch schon 2015 angezeigt gewesen wäre) ohne Härte und Konsequenz nicht gehen. Sollten die Migranten in die EU hereingelassen und gar nach Deutschland weitertransportiert werden, so kriegen wir den Deckel nie mehr zu.

Lukaschenko und Putin werden sich einen Spaß daraus machen und weitere Migranten anlocken. Darüber hinaus werden diese dann auch noch aus anderen Richtungen vermehrt herbeiströmen, da sie ja wieder einmal sehen, dass man mit brachialer Gewalt seinen Willen durchsetzen kann und dafür noch mit einem auskömmlichen Aufenthalt in Europa, vor allem in Deutschland, belohnt wird. Es wird ohne Frage weiterhin hässliche Bilder aus den betroffenen Grenzregionen geben. Der Winter kommt, und die Migranten sitzen elendig fest. Jedoch sind wir für sie nicht zuständig, da Lukaschenko sie mit Billigung Putins ins Land geholt hat, und in Belarus gibt es zurzeit keinen Krieg. So schwer es fällt, aber dieses Mal bleibt keine andere Wahl. Die Politiker sind gefordert, alles zu unternehmen, dass die Grenze komplett gesichert wird. Wir sind gerade auf dem besten Weg, wie 2015 die Kontrolle zu verlieren, wenn wir sie inzwischen nicht schon gänzlich verloren haben. Was die Versorgung der Flüchtlinge betrifft, so sollte sich das UNHCR ihrer annehmen und sich mit Lukaschenko diesbezüglich auseinandersetzen.

Ursula Geißelmeier, Fürth

Europäische Werte

Es gibt viele Gründe, das menschenverachtende Verhalten des Lukaschenko-Regimes zu kritisieren und womöglich auch zu ahnden. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Ganze nur funktioniert, weil die EU insgesamt unfähig ist, Geflüchteten beziehungsweise potenziellen Asylsuchenden den in der EU gültigen Regeln folgend zu begegnen. Danach hätte jeder Mensch das Recht, in einem europäischen Land Asyl zu beantragen oder als Geflüchteter aufgenommen zu werden.

Über diesen Anspruch müssten im Zweifelsfall letztlich Gerichte entscheiden. Diese Regel wurde schon dadurch außer Kraft gesetzt, dass eine Vorgabe eingeführt wurde, wonach ein Geflüchteter prinzipiell in dem Land seinen Antrag stellen müsse, in dem er zum ersten Mal europäischen Boden betrete habe. Dies hat unter anderem für Deutschland, welches keine europäische Außengrenze hat, den Vorteil, dass in Deutschland ein Geflüchteter nur dann einen Antrag stellen könnte, wenn er entweder mit dem Flugzeug gekommen wäre (was wohl selten gelingt), oder wenn es ihm gelungen wäre, aus Ländern wie Spanien, Italien, Griechenland, oder jetzt auch Polen und den anderen baltischen Staaten "illegal" nach Deutschland zu kommen.

Wie katastrophal das für Länder mit europäischen Außengrenzen und für Geflüchtete sein kann, wurde in den letzten Jahren immer wieder deutlich. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte diese Regel zeitweise durchbrochen und wurde dafür gelobt und getadelt, wobei der Tadel zuletzt die Oberhand gewonnen hat. Eine rechtskonforme und nicht zuletzt auch Menschenrechte und Menschenwürde achtende Antwort auf die Probleme könnte sein, dass Geflüchtete aus den "Außengrenzländern" weitergeleitet würden in die Länder, in die sie eigentlich wollen, oder in Länder, die bereit sind, nach einem Verteilungsschlüssel Geflüchtete aufzunehmen.

Stattdessen hat sich die Anschauung durchgesetzt, dass es gelte, die europäischen Außengrenzen zu sichern. Offenbar stehen Heere von feindlichen Geflüchteten vor unseren Grenzen und drohen, Europa zu erobern. Wenn man sie gar nicht erst europäischen Boden betreten lässt, kommen sie auch gar nicht dazu, irgend einen Antrag zu stellen. Und wenn sie im Mittelmeer ertrinken oder auf griechischen Inseln leiden oder in den Wäldern an polnischen Grenzen erfrieren, verhungern, verdursten, dann haben wir nichts damit zu tun. Soll das die Werte-Gemeinschaft Europa sein?

Peter Gäng, Berlin

Humanistischer Auftrag

Das europäische Asylrecht geht vom Schutz der Menschenwürde aus. Die Regelung, dass grundsätzlich der Einreisestaat zuständig ist, wird in der Dublin-III-Verordnung insoweit erweitert, als jeder Staat in der EU in einer humanitären Notsituation die Zuständigkeit für eigentlich "fremde Asylverfahren" übernehmen kann. Statt also den polnischen Grenzschützern auch noch deutsche Truppen zur Verstärkung der Grenzsicherung anzubieten - was unser Innenminister getan hat - könnte unsere Bundeskanzlerin dem polnischen Staat anbieten, die Flüchtlinge nach Deutschland aufzunehmen.

Das Städtebündnis "Sichere Häfen" mit 267 Mitgliedern gibt der gewählten Volksvertreterin damit den Auftrag, sich im Sinne der Humanität einzusetzen. Als führendes EU-Mitglied sollte die deutsche Regierung diese Abschottung an der polnischen Außengrenze nicht zulassen. Humanität geht vor Grenzsicherung. Ich hoffe darauf, dass Frau Merkel sich für die Rettung dieser Menschen einsetzt.

Ernst von der Locht, Tutzing

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