MigrationsdebatteMenschlichkeit nicht mehr im Vokabular

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Seit dem freundlichen Willkommen am Münchner Hauptbahnhof im September 2015 hat sich viel verändert.
Seit dem freundlichen Willkommen am Münchner Hauptbahnhof im September 2015 hat sich viel verändert. (Foto: Sven Hoppe/dpa)

In seinem Kommentar erklärt Heribert Prantl, warum die Diffamierung von Migranten allen schadet. SZ-Leser erweitern seine Argumente.

„Asyl fürs Asyl“ vom 14. Februar:

Stimme der Vernunft

In einer scheinheiligen Gesellschaft von vor allem empörten Wählern hat das Rufen von Herrn Prantl sehr geringe Erfolgsaussichten. Wer nur fühlt, hört selten richtig zu; und die meisten Politiker auf der Wahlkampfbühne führen das Rührstück von der Betroffenheit auf. Aber unter allen Denkfähigen ist Prantls kluger Appell gegen die gerade überbordende Diffamierung des Asylrechts ein leuchtendes Vorbild mutiger Vernunft. Ein Fels in der Brandung, Leuchtturm des Humanitären. Der unbeugsame und wache Jurist stützt sein Urteil auf Fakten, nicht auf diffuse Ängste oder Massenhysterie. Dabei verzichtet er wohltuend auf Übertreibungen, eine Versuchung, der Journalisten so häufig nachgeben. Mein uneingeschränktes Kompliment, Herr Prantl!

Dr. Dietrich W. Schmidt, Stuttgart

UN-Agenda 2030

Sie bringen Ihre kritische Sicht auf den hiesigen Migrationsdiskurs eindrucksvoll auf den Punkt. Sie sprechen mir dabei aus dem Herzen. Die Ursache der Migration sehe ich im Wohlstandsgefälle, das durch die Krisen in Ländern der sogenannten Dritten Welt vergrößert wird. Zu den Krisen tragen die Industrienationen auf unterschiedlichen Ebenen und in vielfacher Art und Weise bei, etwa durch die Ausbeutung der dortigen Rohstoffe, durch Waffenhandel und Finanztransaktionen (Steueroase).

Dem Wohlstandsgefälle kann nur durch weltweit wirkende Maßnahmen entgegengewirkt werden, wie sie in UN-Erklärungen zum Ausdruck kommen, wie zum Beispiel in der Agenda 2030 (Sustainable Development Goals – SDG), die von der UN-Generalversammlung am 25. September 2015 beschlossen und im September 2024 bekräftigt wurde. Ihre Umsetzung liegt im Eigeninteresse der Nationalstaaten, und zwar einschließlich der Supermächte. Denn erst, wenn in den Ländern mit hohen Geburtenraten die Zukunftschancen für die nachwachsenden Generationen sich deutlich verbessern, wird der Migrationsdruck nachlassen. Mehr noch: Migration in umgekehrter Richtung ist etwas Gutes, wenn sie zum Abbau des Wohlstandsgefälles beiträgt, indem durch Rückwanderung Know-how in ärmere Länder transferiert wird. Dies sollte institutionell gefördert werden, wie es in den Balkanländern, vereinzelt auch in Afrika, schon geschieht.

Das SDG 16 der Agenda 2030 der UN stellt Friedfertigkeit und Ächtung von Krieg und Gewalt als Aufgabe heraus. Ist es für unsere künftige Sicherheit nicht vorteilhafter, anstatt militärisch auf Abschreckung durch Hochrüstung (Rüstungswettlauf) auf vertrauensbildende Maßnahmen (confidence-building measures) zu setzen, auf Ausbildung und Einsatz von Friedensfachkräften (Konflikttransformation); und wirtschaftlich auf Schuldenerlass für die ärmsten Länder nebst bedingungslosem Grundeinkommen für Haushalte? Und weltweit auf eine einheitliche Besteuerung von Rüstungsexporten, Finanztransaktionen und Milliardären.

Prof. Richard Motsch, Bonn

Perspektivwechsel

Ich stelle mir gerade folgendes Szenario vor. Drehen wir die Zeit um 25 Jahre zurück. Es geschehen regelmäßig Morde. Opfer sind immer Deutsche mit „Migrationshintergrund“. Die Strafverfolgungsbehörden reagieren hilflos bis kontraproduktiv, wobei sie Demütigungen der Opferfamilien zum Teil bewusst in Kauf nehmen. Dann werden nach vielen Jahren des „Umhersuchens“ die wahren Täter ermittelt. Erst als eine „Biodeutsche“, zudem noch eine Polizistin, ermordet wird, nehmen die Ermittler ihre Aufgaben ernst. Die Täter/-innen sind fast alle, soweit die Behörden Lust haben, weiterzusuchen, Menschen aus Sachsen. Es gibt – natürlich, selbstverständlich – keinen Generalverdacht gegen alle Bewohner/-innen dieses Bundeslandes. Eine „Notlage“ wird nicht ausgerufen.

2025 ist das anders. Es gibt Taten, die vereinzelten Asylsuchenden zugeordnet werden können. Somit wird die Migrationsdebatte hochgekocht, weil „alle Asylsuchenden“ und Migranten – alles gleich in einem Aufwasch – unter Generalverdacht gestellt werden. Also sofort Abschiebung, Abschiebehaft und uneingeschränkte Grenzkontrollen. Das eigentliche Ziel ist natürlich nicht die Migration an sich, sondern das Asylrecht, aber zu viel Differenzierung würde „das Volk sicher verunsichern“.

Das Asylrecht, von dem seit der „Reform“ 1993 und dem europäischen Asylsystem nicht mehr viel übrig ist, steht zum Abriss bereit. Sehe ich mir an, was aus dem einfachen Satz des Artikels 16a geworden ist – ein von Juristen aufgeblähter, unlesbarer Text, der in Kurzform heißt: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht, aber nicht in Deutschland (Europa).“ Da fehlt nicht mehr viel. Bestimmte politisch konservative Kreise haben schon vorgeschlagen, dieses Recht zum „Gnadenrecht“ abzuwerten.

Da hat Herr Prantl recht, dass der Art. 16a selbst Asyl braucht. Aber wer in Europa will ihm das gewähren? Wo sind die „Leuchttürme von Rechtsstaatlichkeit, Menschlichkeit und Demokratie“? Die USA fallen für mindestens vier Jahre komplett aus, und in Europa gibt es überall Elemente, die genau unterscheiden, wem sie Recht gewähren und wem nicht. Und die Unmenschlichkeit, die sich vor Kurzem noch in aller Öffentlichkeit im Mittelmeer offenbarte, fällt nur deswegen nicht mehr auf, weil die Helfer mit Strafen überzogen und die Flüchtenden von Kräften eingefangen werden, bei denen Rechtsstaatlichkeit und Menschlichkeit nicht im Vokabular vorkommen.

Jetzt hat wieder einer, der Asyl beantragt hatte, gemordet. Alle staatstragenden Parteien – Grüne inklusive – geben sukzessiv den vielleicht noch vorhandenen Widerstand gegen die „harte Linie“ auf. Die wahren Motive der Täter von Solingen, Magdeburg, Aschaffenburg oder München interessieren nicht. Ebenso ist es bei den Aussichten, ob die neuen „Lösungen“ künftig solche Taten verhindern können. Aber das ist egal, dann kommt eben die nächste Verschärfung. Und dann, da bin ich mir leider fast sicher, wird das Asylrecht zum Schafott geführt. Die Messer werden schon überall gewetzt. Und keiner stellt ein Gnadengesuch.

Thomas Spiewok, Hanau

Ehrlich, anständig, hilfsbereit

Es war eine Wohltat, Ihren Artikel nach dem schrecklichen Vorfall hier in München zu lesen. Wir, in erster Linie meine Frau, engagieren uns seit 2015 privat bei der Unterstützung von Flüchtlingen. In erster Linie, um ihnen Deutsch beizubringen, aber auch als Hilfe bei Behördengängen, Wohnungssuche oder auch nur, um alltägliches wie Geschirr, Kleidung oder Sonstiges zu besorgen.

Wie immer war einer der Ersten, der nach dem Anschlag sein Gesicht in die Kameras streckte, unser unsäglicher Ministerpräsident Markus Söder mit Gefolge. Für mich in erster Linie, um Wahlkampf und Stimmung zu machen. Es ist für mich unverständlich, wie so viele Menschen auf diesen Politiker immer wieder hereinfallen und ihm eine Mehrheit verschaffen.

Ich hoffe, dass viele ehrliche, anständige, hilfsbereite Bürgerinnen und Bürger, die Ihren Artikel gelesen und weitergereicht haben und sich nicht von Söders populistischem Gerede blenden lassen, dies bei einer Wahl auch durch ihr Kreuz zum Ausdruck bringen.

Erich Schönhofer, München

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