Angela Merkel:16 Jahre Kanzlerin - und ein paar Fragen offen

Wie war das mit Putin - und wie gefällt ihre eigene Rückschau?

Angela Merkel: SZ-Zeichnung: Michael Holtschulte

SZ-Zeichnung: Michael Holtschulte

"Bunte Farben, blinder Fleck" und "Kuck mal, wer da spricht" vom 9. Juni:

Eine Frage des Vorsatzes

Die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel hat bei ihrem jüngsten Interview mit dem Journalisten Alexander Osang zwar eingeräumt, dass sie bereits vor Jahren die Befürchtung hegte, Putin könne gegen die Ukraine einen Krieg anzetteln. Dennoch hat sie den Bau der Gas-Pipeline Nord Stream 2 durchgewunken und Deutschlands Abhängigkeit vom russischen Gas besiegelt. Der dadurch entstandene volkswirtschaftliche Schaden geht bereits jetzt in die Milliarden. Falls Putin den Gashahn zudreht, sind in Deutschland Millionen Arbeitsplätze bedroht. Ein findiger Jurist könnte nach diesem Eingeständnis möglicherweise einen Vorsatz konstruieren. Aber so weit wird es nicht kommen. Deutschland ist einig Merkel-Land.

Die Nachfolgeregierung, die bei Umfragen schlecht wegkommt, kann einem leidtun - besonders der öffentlich-rechtliche Rundfunk lässt keine Kritik an Merkel aufkommen. Während Gerhard Schröder wegen seiner Nähe zu Putin verurteilt wurde, wird Merkel geschont. Selbstverständlich ist sie sich, wie schon in ihrer Amtszeit, keinerlei Schuld bewusst und sieht keinen Grund, sich zu entschuldigen. Öffentliche Kritik muss Merkel nicht befürchten.

Vor rund 20 Jahren fiel sie ihrem einstigen Förderer Helmut Kohl mit einem Gastbeitrag in der FAZ brutal in den Rücken. Ihr politischer Aufstieg fußte auf dieser schweren öffentlichen Attacke gegen einen "Parteifreund". Wenn das die Eigenschaften sind, die Merkel populär und unangreifbar machen, dann "Gute Nacht, Deutschland".

Alfred Kastner, Weiden

Nicht vorhersehbar

Hinterher weiß man alles besser, auch Joachim Käppner. Ich bin kein CDU-Wähler, aber ich habe nichts an Merkels Außenpolitik auszusetzen. Eine derartige Entwicklung konnte niemand vorausahnen.

Die Sanktionen schaden uns mindestens so viel wie Russland, das dürfte klar sein. Der Verteidigungsetat wurde für sinnlose Auslandseinsätze verplempert oder für Beraterhonorare (von der Leyen), statt moderne Waffen anzuschaffen und die vorhandenen einsatzbereit zu halten. Bis zur Eskalation vor einigen Monaten entsprach es dem Willen der Mehrheit, den Verteidigungsetat nicht exorbitant zu erhöhen. Auch in diesem Punkt ist es jetzt unfair, im Nachhinein diese besserwisserische Haltung einzunehmen.

Wir haben es bei den USA und Russland mit zwei Weltmächten zu tun, die beide ihren Einfluss und Machtbereich ausweiten wollen. Es gab Zusagen, die Nato nicht nach Osten zu erweitern. Merkels Politik war sehr durchdacht - insbesondere der damals korrupten Ukraine keinen Nato-Beitritt zuzugestehen. Das hat sie im Interview ausführlich begründet. Dazu äußert sich Joachim Käppner bezeichnenderweise nicht.

Die Bellizisten, die jetzt auf Waffenlieferungen bis hin zu Mittelstreckenraketen dringen, sollten verstehen, dass nur Verhandlungen den Krieg beenden, und sich ein Beispiel an Merkel, Scholz und Henry Kissinger nehmen. Strack-Zimmermann und Baerbock liegen falsch.

Rolf Werner, Stolberg

Fehlbesetzung

Angela Merkel hatte die Wahl zwischen zwei Erzählungen: Die peinlichere, sie sei auch selbst ganz überrascht von Putins Gewissenlosigkeit, hat sie vermieden. Aber mit der anderen, sie habe das Desaster irgendwie kommen sehen, steht sie nicht besser da. Der Opposition kann man durchgehen lassen, erfolglos gewarnt zu haben. Eine politisch Verantwortliche kann sich darauf nicht zurückziehen.

Axel Lehmann, München

Überzogen

Ich unterstütze durchaus die Einschätzung, dass es wohlfeil ist, am Wissen von heute die Politik von gestern zu messen und moralisch abzuurteilen. Aber wieso begibt sich Joachim Käppner in seinem Kommentar auf diese wohlfeile Ebene der Argumentation? So gut wie niemand, selbst Wolodimir Selenskij nicht, hat diesen verheerenden Krieg in der Ukraine für möglich gehalten, da er, abgesehen von der moralischen Verwerfung, politisch und ökonomisch eine große Torheit ist. Jetzt ist die Katastrophe da, und es braucht offenbar einen Sündenbock, der im medialen Fegefeuer für die immer stärker spürbaren Folgen einsteht. Weder Merkel noch der frühere Außenminister Frank-Walter Steinmeier bestreiten, mit ihrer Appeasement-Politik falsch gelegen zu haben. Das können beide aber erst mit dem Wissen von heute einräumen. Bei der Krim-Annexion vor acht Jahren stand es ihnen noch nicht zur Verfügung. Zudem erscheint es fraglich, ob bei einer Aufrüstung der Bundeswehr und einer von Russland unabhängigen Energieversorgung dieser Krieg zu verhindern gewesen wäre.

Wer von einem kunstvoll inszenierten Selbstbild der Altkanzlerin spricht, das einen blinden Fleck erhalten habe, stellt die Integrität einer Politikerin infrage, die ihrem Land 16 Jahre lang uneitel gedient hat. Weil Putin irrational handelt, ist die außenpolitische Strategie der damaligen Bundesregierung nicht aufgegangen. Das ist völlig unstrittig und zu bedauern. Sie ist aber nie leichtfertig verfolgt, sondern jeweils nach bestem Wissen (heute wissen alle mehr) und Gewissen verantwortet worden. Daraus das Fazit abzuleiten, das bis dahin positive Bild der Merkel-Jahre habe sich jäh verdunkelt, erscheint mir überzogen und im moralischen Urteil - eben wohlfeil.

Armin Salin, Bochum

Bürger müssen es ausbaden

Mit Befremden habe ich das Interview verfolgt und war erschrocken über so viel Unbekümmertheit und Fehlanalyse seitens der Bundeskanzlerin a. D. Osang war viel zu zaghaft und hat wichtige Komplexe wie die wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland in den letzten 16 Jahren völlig ausgeklammert. Das hätte herausgearbeitet werden müssen, denn für die wirtschaftliche Abhängigkeit von Russland, die vor allem Gas und Öl betrifft, ist in erster Linie die Regierung Merkel verantwortlich. Ich hätte Merkel auf ihren Eid aufmerksam gemacht, den sie einst geschworen hat. Sie sollte Schaden vom deutschen Volk abwenden, das Gegenteil hat sie gemacht. Daran hatte nicht nur die CDU, sondern auch die SPD maßgeblichen Anteil, denn ihnen waren wirtschaftliche Interessen wichtiger als alles andere. Warum wurde nach den Kriegen in Georgien, Moldau, auf der Krim und in der Ostukraine Nord Stream 2 in Angriff genommen? Keiner der damaligen Politiker wird dafür zur Rechenschaft gezogen. Diese politische Fehlentwicklung müssen wir nun alle ausbaden.

Thomas Henschke, Berlin

Kritische Stimmen vermisst

Die SZ fragt: Warum hat die Kanzlerin a. D. die Abhängigkeit von russischen fossilen Energien zugelassen, wo sie doch schon früh erkannt haben will, dass Putin die EU zerstören wolle? Mal abgesehen davon, dass die deutsche Politik diese Abhängigkeit zugelassen hat und die deutsche Wirtschaft diese preiswerten und zuverlässigen Energielieferungen begrüßte: Wo waren die kritischen Stimmen hierzu während der 16-jährigen Kanzlerschaft?

Rolf Borrmann, Grevenbroich

Unterm Strich: nichts

16 Jahre Angela Merkel hat Deutschland dahin geführt, wo es jetzt steht: die Infrastruktur - vor allem die kritische - kaputtgespart, zu fortschrittlichen Entwicklungen nicht mehr in der Lage, die Gesellschaft gespalten und demokratiemüde, die Zahl der Millionäre und deren Milliarden explodiert, ebenso die der Menschen, die von ihrer harten, ehrlichen Arbeit nicht mehr leben können. Zwei Aussagen von ihr sind mir als bedeutsam erinnerlich, 2005: "Es müssen ja nicht 16 Jahre werden", in Bezug auf die Jahre unter Kohl. Daran gehalten hat sie sich leider nicht, im Gegenteil: Sie hat wichtige Nachfolgeentwicklungen verhindert. Kohl'sche Schule eben. Nach 16 Jahren Kohl hatten sich die Grünen etabliert, aber nach Merkel sitzt die AfD in fast allen Parlamenten.

2015 sagte sie: "Wir schaffen das!" Menschlich anständig, nur wurde zu wenig unternommen, um die alternativlose Aufgabe gut bewältigen zu können. Nach Mautpleite und Pandemieversagen eine Taskforce aus den zuständigen Ministern aufzustellen? Andi Scheuer gute Arbeit zu bescheinigen? Politisch ist es der dicke Summenstrich unter dem Nichts, das Merkel hinterlässt. Höchste Zeit für das größte Verdienstkreuz ever.

Michael Seitz, München

Kluge Zurückhaltung

Es bleibt ein großes Mysterium, weshalb Menschen Merkels Erklärungen für ihre Russlandpolitik widerspruchlos hinnehmen und sie mit tosendem Beifall bedenken. Wenn Merkel Putins Abgründe von Anfang an begriffen hatte, wie sie behauptet, weshalb hat sie dann nicht verhindert, dass Deutschland sich in diese unsägliche Abhängigkeit von russischer Energie begibt? Weshalb hat sie, wenn sie doch Putins imperiale Gelüste realistisch einschätzte, nicht verhindert, dass ihre Verteidigungsminister, insbesondere zu Guttenberg und de Maizière, die Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr so demontieren konnten, dass die gegenwärtige Regierung eine Zeitenwende ausrufen musste, um die Landesverteidigung auf ein vernünftiges Niveau zu bringen?

Käppners Verdacht, dass sich Merkels positives Bild jäh verdunkelt habe, kann ich allerdings nicht teilen, solange dieses in der öffentlichen Berichterstattung nicht infrage gestellt wird. Sich dabei auf Shitstorms der sozialen Medien zu verlassen, ist ein frommer Wunsch. Die ernst zu nehmenden Medien konzentrieren sich lieber darauf, die seit Kurzem regierende Koalition wegen ihrer überlegten und zurückhaltenden Verteidigungspolitik zu kritisieren, wohl wissend, dass es Deutschland gut ansteht, sich nicht, wie populistisch gefordert, in die vorderste Reihe zu stellen, wenn es um die Frage der militärischen Ausrüstung der Ukraine geht.

Unter gar keinen Umständen ist dieser verbrecherische Überfall Putins auf die Ukraine zu rechtfertigen. Der Umgang mit diesem Verbrechen darf aber auch nicht dazu verführen, eine politische Entscheidung allein von einer moralischen Ebene herab treffen zu wollen. Die Bilder, die uns aus dem Krieg erreichen, sind schrecklich. Sie dürfen uns aber nicht dazu verführen, aus einer emotionalen Betroffenheit heraus, unkluge und gefährliche Fehlentscheidungen zu treffen. Insoweit bin ich einverstanden mit der zurückhaltenden und sachlichen Art unseres Kanzlers. Er hat nach meinem Verständnis von repräsentativer Demokratie auch keinen Grund, jede Überlegung der Öffentlichkeit mitzuteilen.

Hans Schächl, Isernhagen

Heuchelei

Kein Politiker kann sich auf Dauer auf seinem Posten halten, wenn sich die öffentliche Meinung gegen ihn stellt. Diese wird maßgeblich von den Leitmedien geprägt. Käppner hätte Merkel gern mit der Frage in Verlegenheit gebracht: "Warum haben Sie das Land in eine solche Abhängigkeit von Gas und Öl aus Russland geführt?"

Die Gefährlichkeit von Putin hat uns alle überrascht. Vor dem Krieg gab es keinen Sturm der Entrüstung gegen den Handel mit Russland. Wenn Journalisten heute die vor dem Überfall auf die Ukraine regierenden Politiker an den Pranger stellen, weil sie den Handel mit Russland befürworteten, empfinde ich das als Heuchelei.

Dr. Hans-Joachim Schemel, München

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