#allesdichtmachen:Eine Frage von Stil, Toleranz und Demokratie

Von geschmacklos bis großartig: Die Meinungen zu den Kurz-Videos von 50 Künstlern zu den Corona-Maßnahmen im Land und den Folgen gehen sehr weit auseinander.

Illustration

SZ-Zeichnung: Michael Holtschulte

Zu "Gute Nacht zusammen" vom 24./25. April und "Alle nicht ganz dicht", 23. April:

Berechtigte Corona-Satire

Zur Aktion #allesdichtmachen vieler renommierter Künstlerinnen und Künstler kann man natürlicherweise unterschiedlicher Meinung sein. Doch ist die Reaktion mancher Medien, darunter leider auch die der von mir geschätzten SZ, völlig überzogen. Scheinbar wurde hier auch ein wunder Punkt getroffen. Die an dieser Aktion beteiligten Kulturschaffenden sind weder Corona-Leugner noch Verschwörungstheoretiker und haben auch keine Hasspredigten, Beleidigungen oder Diskriminierungen im Internet verbreitet, sondern teils auch auf intelligente und satirische Weise ihre Ansichten zu den Corona-Maßnahmen der Politik und deren medialer Begleitung geäußert. Und einige dieser Maßnahmen sind eben besonders für viele auch unbekannte im Kulturbereich tätigen Menschen existenzgefährdend.

Manche dieser Restriktionen sind darüber hinaus unverhältnismäßig und nicht wissenschaftlich begründet, wie zum Beispiel die Maskenpflicht im Freien. Dass man den Schauspielern vorhält, Beifall von der falschen Seite, nämlich von der AfD oder den Corona-Leugnern zu erhalten, geht an der Sache vorbei. Denn wenn man die Äußerung seiner Meinung davon abhängig macht, wer einem ungewollt zustimmen könnte, dann haben wir eine Beschneidung des Rechts auf freie Meinungsäußerung. Und das ist in einer demokratischen Gesellschaft inakzeptabel.

Norbert Limmer, Regensburg

Kritik an den Medien

Der Umgang mit #allesdichtmachen ist ein schauriges Lehrstück. Wer wie Jan Josef Liefers absolut berechtigte Kritik an den Leitmedien übt, muss einen unfassbaren Shitstorm über sich ergehen lassen. Das lässt uns um unsere Demokratie fürchten, deren Grundfeste die Meinungsvielfalt ist.

Dr. Jutta Steinmetz, Paderborn

Eseleien

Es heißt, dass wer sich vor einen Karren spannen lässt und nicht drauf achtet, wer auf dem Kutschbock sitzt, sich selbst zum Esel mache. Insofern hilft auch das Brüllen als Reaktion auf die Hiebe, die es jetzt dafür setzt, nichts - es kommt nur ein Iah heraus (auch wenn man Jan Josef Liefers heißt und ab und zu einen Professor spielt). Mein Respekt gilt denen, die den Mut hatten, den bereits laufenden Karren noch zu verlassen. Bei all den anderen, deren Filme ich mit oft großem Genuss konsumierte, muss ich mir wohl eingestehen, dass ich mich getäuscht habe; sie schienen mir etwas Besonderes zu sein, es waren aber am Ende wohl doch nur Esel am Werk.

Jochen Löffler, Augsburg

Ironie mit Augenzwinkern

Ich kann diese ganze Aufregung und Hysterie um die Videos der Schauspieler überhaupt nicht verstehen. Das Ganze war mit einem Augenzwinkern und teilweise satirisch gemacht und sollte ein wenig aufrütteln. Wenn dann die AfD darauf einsteigt und die Videos beklatscht, dann hat sie, wie so oft, die Botschaft dahinter gar nicht verstanden. So möchte ich in diesem Zusammenhang nur an den grandiosen Auftritt des Kabarettisten Florian Schroeder bei der "Querdenker"-Bewegung erinnern, wo allen Demonstranten der Spiegel vorgehalten wurde und sie der Lächerlichkeit preisgegeben wurden. Das war meisterhaft.

Thomas Henschke, Berlin

Verhöhnung Leidender und Toter

Das verfassungsmäßige Recht auf Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut, wurde aber in der Videoaktion der Künstler teilweise in einer Art pervertiert, die sprachlos macht. Nehmen wir zum Beispiel das Video des Schauspielers Richy Müller. Während sich in Hunderten Krankenhäusern jeden Tag und jede Nacht intensivmedizinisches Personal bis zur Erschöpfung darum bemüht, Corona-Patienten, vor allem auch mit künstlicher Beatmung, vor dem qualvollen Erstickungstod zu bewahren, stellt sich Herr Müller vor die Videokamera und macht, mit Abfalltüten aus Plastik, alberne Atemspiele. Dies ist menschenverachtend. Zudem verhöhnt es 80 000 Verstorbene und deren trauernde Angehörige sowie das um Lebensrettung bemühte medizinische Personal.

Dipl. Ing Friedhelm Kreis, Herrsching

Tiefpunkt an Gleichgültigkeit

Für ihren Mangel an Mitgefühl und Empathie sind Teutonen und Germanen, die Walküren und Wotans (Odins), die Ulrichs und Ulrikes, Heikes und Volkers, Jans und Josefs - und die Müllers natürlich auch - weltweit bekannt. "Die Unfähigkeit zu trauern" haben Margarete und Alexander Mitscherlich vor mehr als 50 Jahren eindringlich beschrieben. Vieles, was sie dort so hellsichtig aufgeschrieben haben, passt auch zum "kollektiven Verhalten" der Deutschen in dieser Pandemie. Die Schauspieleraktion ist ein Tiefpunkt dieser Gefühlsgleichgültigkeit angesichts einer so großen nationalen und internationalen Katastrophe. Die Mitscherlichs schreiben: "Die Unfähigkeit, um irgendetwas anderes zu trauern als um den Verlust seines eigenen Wohlergehens ... gehört in den großen Kontext der Unfähigkeit zum Mitgefühl überhaupt." Die Mimen mit ihrem übergroßen Ego denken halt nur an sich und ihr Wohlfühlen.

Theo Pischke, Berlin

Leben ist mehr als Gesundheit

"Gesundheit ist mehr als die Abwesenheit von Krankheit. Gesundheit ist der Zustand völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens" definiert die Weltgesundheitsorganisation. Seit über einem Jahr konzentriert sich die Politik auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene fast ausschließlich auf den Erhalt der körperlichen Unversehrtheit und genießt für diese Einseitigkeit den Applaus von vielen Seiten. Nun wagt eine Handvoll Schauspieler und Schauspielerinnen den leisen Versuch, dieses Ungleichgewicht aufzuzeigen und aufzubrechen. Statt Anerkennung für ihre basisdemokratische Aktion ernten sie die Diffamierung als von der AfD umschlungene Corona-Leugner und Verschwörungstheoretiker. Die Form ihrer Botschaft war gewiss nicht superprima durchdacht. Für ihr Bemühen aber, die seelische und soziale Gesundheit stärker ins Scheinwerferlicht zu rücken, gebührt den Verfassern Respekt und Dank. Leben ist mehr als die Abwesenheit von Tod.

Michael Popp, Erlangen

Ausdruck der Verzweiflung

Die Ironie der Künstler-Videos muss nicht gefallen, für mich sind sie Ausdruck großer Verzweiflung über die gegenwärtige Situation. Die überwiegend missglückten Maßnahmen der Bundesregierung zur Eindämmung der Pandemie, die da sind: die nicht funktionierende Nachverfolgungs-App, die verspätet angelaufene Beschaffung von Schutzkleidung und Masken (hieß es anfangs nicht sogar, Masken seien unwirksam, daher unnötig?), der verschlafene Sommer (keine Vorbereitung zum Beispiel der Schulen und Krankenhäuser auf die erwartete zweite Welle), bis heute keine vollumfänglichen Testungen, der chaotische Impfstart; diese Maßnahmen sind ohne Zweifel kritikwürdig.

Dies lautstark zu tun und auf die sich daraus ergebenden Folgen für Künstler, auch für viele andere Menschen, aufmerksam zu machen, ist legitim, meiner Meinung nach auch in dieser provokanten Form.

Dr. Helga Büdel, München

Was Sokrates dazu sagen würde

"So stellte ich denn auch bei den Dichtern in kurzer Zeit fest, dass sie nicht aus Weisheit hervorbrachten, was sie hervorbrachten [...]sondern aufgrund einer besonderen Veranlagung und in göttlicher Begeisterung wie die Seher und Orakelsänger. Denn auch diese sagen viele Dinge, ohne zu wissen, was sie sagen. [...]Und zugleich bemerkte ich, dass sie wegen ihrer Dichtungen glaubten, sie seien auch sonst ganz besonders weise Leute - was sie nicht waren" (Platon: Apologie des Sokrates). Statt "Dichter, Tragödien- und Dithyrambenschreiber und alle die anderen, ..." wie Sokrates sagt, lassen sich heute verschiedene Professionen einsetzen: Schauspieler, Philosophen, Fußballtrainer, Unterhaltungsliteraten, Juristen, Ärztefunktionäre, Medienschaffende, bevorzugt als Talkshow-Teilnehmer. Die Politiker hatte Sokrates übrigens schon zuvor befragt, mit entsprechendem Ergebnis.

Carsten Stick, Altenholz

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