Achtsamkeit:Ethischer Anspruch

Was genau versteht man unter dem Begriff der Achtsamkeit? Geht es um Techniken der Meditation oder eher um eine grundsätzliche Haltung zu den Mitmenschen und zum Leben an sich? Einige SZ-Leser äußern sich klar und kritisch.

Zu "Mir doch egal" vom 4. März:

Es geht um die Haltung

Leider ist Achtsamkeit kein geschützter Begriff mehr. Und so wird er inflationär als Etikett einer Entspannungstechnik gebraucht, die in betrieblichen Fortbildungen und Ähnlichem eingesetzt wird, um ein besseres Betriebsklima zu erzeugen. Diese Technik hat mit Achtsamkeit jedoch so viel zu tun, wie in der christlichen Glaubenshaltung Gnade mit der "billigen Gnade", in welcher Gottesdienst und Gebet nur als Boxenstopp im sonst unsozialen Alltag genutzt werden. Achtsamkeit an sich ist keine Technik, sondern eine Haltung, die das ganze Leben umfasst. Sie ist untrennbar verbunden mit Mitgefühl, dem Mitgefühl allen lebenden Wesen, aller Kreatur gegenüber. Achtsamkeit, wirklich praktiziert, macht, so betont die Zen-Meisterin Doris Zölls in ihrem jüngsten Buch, sogar noch verletzlicher. Denn wer sich achtsam dem Leben aussetzt, setzt sich dem Leben ohne ideologischen Überbau aus. Allein hier ist die Offenheit einzuordnen, die S. Suzuki in dem fraglichen Zitat beschreibt. Und woher die Mär, dass durch die Praxis der Achtsamkeit das Gewissen beruhigt beziehungsweise das schlechte Gewissen verstummen würde? Achtsam sich selbst wahrnehmen bedeutet, sich ohne Entschuldigung, ohne jede Rechtfertigung wahrzunehmen, nackt sozusagen - und alle Schuld zu durchweinen. So benutze ich selbst den inzwischen so verbrannten Begriff "Achtsamkeit" kaum noch, sondern greife stattdessen zu Begriffen wie "Wachsamkeit", "Aufmerksamkeit" oder Ähnlichem.

Dirk Harms, Schwerte

Kaum neue Erkenntnisse

Ein ärgerlicher Artikel, weil er an Erkenntnis nur vermittelt, was alle schon wissen: Die Dinge auf dieser Welt haben nie nur Positives, und es kommt darauf an, mit welchem Ziel man etwas einsetzt. Zu vermuten, dies sei den meisten, die sich mit Achtsamkeit beschäftigen, nicht bewusst, lässt ein seltsames Verständnis dieser Menschen durch den Autor vermuten. Auch die Erkenntnis, dass die Dosis das Gift macht, ist schon Jahrtausende alt. Die angeführten Ergebnisse der genannten Studien sind weitgehend Vermutungen, werden auch so formuliert ("könnten"), was zu loben ist, was aber die Relevanz der Ergebnisse sehr limitiert. Unpassend sind die Beispiele für eine fehlgeleitete Anwendung von Achtsamkeitsübungen, denn sie passen nicht zu der benannten Klientel. Nach diesem Artikel kann man allerdings der Bundeswehr und allen Ausbildungsstätten für Manager nur empfehlen, Achtsamkeitsübungen in ihr Ausbildungsprogramm zu übernehmen. Vielleicht gäbe es dann Überraschungen.

Gerhard Hoffmann, Korbach

Mitgefühl, nicht Technik

Der Artikel liefert wertvolle Denkanstöße. Aus meiner Sicht hat sich aber Begriffsverwirrung eingeschlichen. Es hat sich eingebürgert, Achtsamkeitsübungen, die man als reine Technik erlernen kann, um Gedanken und Emotionen besser zu beherrschen, mit dem Begriff Achtsamkeit gleichzusetzen. Ich gebe dem Verfasser recht: Als reine Technik kann man diese Übungen für fragwürdige Ziele missbrauchen. Zudem steht zu befürchten, dass man etwa versucht, unter dem Deckmantel der Fürsorge Mitarbeiter so zu schulen, dass sie mit hochbelastenden Arbeitsbedingungen besser zurechtkommen - anstatt die Bedingungen zu verbessern. Im traditionellen Sinn meint Achtsamkeit keine Technik, sondern eine Lebenshaltung mit hohen ethischen Ansprüchen: Rücksichtnahme, Respekt, Mitgefühl, Verbundenheit mit allen Wesen.

Maria Hanauska, Pfünz

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