Essay "Schwere Geburt" vom 30. April:
Hinkender Vergleich
Vielen Dank für die "Hilfestellung" von Nele Pollatschek zum Diskurs über Schwangerschaftsabbrüche. Ich erlaube mir einige Ergänzungen. Frau Pollatschek führt den Begriff "potenzielles Leben" ein, was wohl heißen soll: Das Leben könnte beginnen, es hat aber noch nicht begonnen. Mit der Frage, wann genau Leben beginnt, haben sich vor der Autorin schon andere beschäftigt. Dass ein Fetus, dessen Herz schlägt, der auf äußere Reize reagiert und sämtliche Organe besitzt, zu leben begonnen hat, würden die meisten bejahen, auch die meisten Schwangeren.
Der Vergleich mit dem kranken Mitmenschen, dem wir nicht verpflichtet sind, eine Niere zur Verfügung zu stellen, auch wenn er die zum Überleben braucht, hinkt: Dessen Lage haben wir nicht zu verantworten, die Eltern die Existenz eines Embryos jedoch schon. Sie stehen ihm nicht als unbeteiligte Dritte, sondern als (freiwillige) Erzeuger gegenüber und haben eine Fürsorge-, womöglich sogar eine Garantenpflicht für sein Leben.
Die schönen Ideen zur Befreiung der Frau wie verpflichtende Vasektomie von XY-Individuen (so leicht, wie Frau Pollatschek meint, ist das nicht rückgängig zu machen) oder Ermöglichung von Schwangerschaften außerhalb des weiblichen Körpers sind wohl noch nicht ganz praxisreif.
Wie wäre es, wenn wir uns statt mit großen Entwürfen mit kleinen Veränderungen beschäftigen würden? Die Krankenkassen sollten Empfängnisverhütungsmittel kostenlos zur Verfügung stellen und die Kosten für rechtmäßige Schwangerschaftsabbrüche übernehmen. Hierzu müssten nur kleinere Veränderungen im Sozialgesetzbuch V vorgenommen werden, die der Selbstbestimmung der Eltern nützen würden, ohne die Achtung vor dem Leben des Ungeborenen aufzugeben.
Dr. med. Thomas Hirsch, Greifswald
Lebensverhinderer Onan
Ein grandioser Beitrag zur erneuten Debatte von Schwangerschaftsabbrüchen. Die ganze Unwucht der Debatte, im gerne laut vorgetragenen Pro und Contra, wird durch Ihre Gegenüberstellung von "ungeborenem Leben" und "potenziellem Leben" anschaulich herausgestellt. Überzeugend sind auch Ihre Gedanken, wie weit man gehen müsste, wolle man stringent argumentieren. Die konsequente Einführung der Vasektomie würde die Diskussion einer neuen gesetzlichen Regelung des Paragrafen 218 mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Kompromiss führen, der Frauen endlich die alleinige Entscheidung über ihren Körper zugesteht.
So wie es der biblischen Figur Onan nach Genesis 38,9 freistand, seinen Samen zur Erde fallen zu lassen: potenzielle Leben dahin, aus eigenem Willen. Heute täglich unzählige Male weltweit praktiziert, ohne die Drohung nach Genesis 38,10. Man macht bisher dazu noch keine Gesetze. Die Einführung der Beratungslösung auch für diesen Fall würde eine Neufassung, besser Streichung des Paragrafen 218 massiv beschleunigen.
Gerhard Sy, Kusterdingen
Geeignetere Bibelstellen
"Ein Buch, das sich in der 'Pro Life'-Bewegung großer Beliebtheit erfreut, obwohl es sich insgesamt eher pro-Schwangerschaftsabbruch geriert - ständig werden Feten in Gottes Namen aus ungläubigen Bäuchen gerissen": So schreiben Sie zur Haltung der Bibel in der Abtreibungsfrage. Nun ja. In der Stelle geht es halt um Ungläubige, die auch getötet werden, nicht nur deren Feten.
Auch die von Ihnen angeführte Stelle zu Onan ist hier weniger relevant. Sehr wohl dagegen Exodus, 21, 22f.: Wenn bei der Rauferei zweier Männer eine dabeistehende Schwangere so getroffen wird, dass sie eine Fehlgeburt erleidet (merkwürdig konstruiertes Beispiel, aber egal), gibt es eine Geldstrafe. Wenn der Schwangeren selbst was passiert, gilt das Prinzip Leben für Leben. Hier wird der Wert des ungeborenen Lebens eindeutig unter dem des geborenen taxiert. Aber versuchen Sie mal, das einem bibeltreuen Christen zu erklären. Ich hab's versucht, ist sinnlos.
Gebhard Dettmar, Hamburg
Ethik rücksichtsloser Autonomie
Die Begriffe "reproduktive Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin" im Untersuchungsauftrag der von der Ampelregierung beauftragten Expertenkommission bringen die politische Zielsetzung auf den Punkt: Die rot-grün-gelbe Koalition tut alles dafür, die unbeschränkte Autonomie der Schwangeren im Umgang mit dem ungeborenen Menschen rechtlich, wissenschaftlich und vor allem gesellschaftspolitisch zu legitimieren. Die Frage nach dem Schutz des ungeborenen Lebens ist nachrangig, weil sie politisch nicht ins Kalkül passt.
So sehr von der Ampel bei der Thematik des Klimawandels der Schutz des geborenen Lebens zum kompromisslosen und universalen Maß allen politischen Handelns erklärt wird, so wenig spielt der vorgeburtliche Lebensschutz des ungeborenen Menschen eine Rolle. Es ist eine radikal säkulare Logik und eine absolut materialistische Anthropologie, die zu einer Ethik rücksichtsloser Autonomie und technologischer Medizin führt, die dem individualistischen Interesse jeder Frau zu dienen hat. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde als Leitperspektive unserer Verfassung wird als Recht der Stärkeren uminterpretiert. Das haben sich die Mütter des Grundgesetzes vor 75 Jahren ganz anders vorgestellt, die dieses im Bewusstsein der "Verantwortung vor Gott und den Menschen" verfasst haben, wie es in der Präambel steht.
Thomas Gottfried, Freising
Eher Polemik als Hilfestellung
Nele Pollatschek nennt ihren Beitrag eine "Hilfestellung zum Diskurs um Paragraf 218". Was als "Hilfestellung" bezeichnet wird, ist aber für mich eine sehr polemische Stellungnahme, in welcher der Schutz menschlichen Lebens von Anfang an, wie ihn auch unser Gesetzgeber ab der Einnistung grundsätzlich vorsieht, abwertet und der körperlichen Selbstbestimmung in absoluter Weise unterordnet. Man kann über den Beginn menschlichen Lebens ja argumentativ diskutieren. Indem Pollatschek den Begriff "ungeborenes Leben" einfach durch "potenzielles Leben" ersetzt und damit dessen Schutzwürdigkeit abspricht, maßt sie sich schlicht und einfach an, den Zeitpunkt des Beginns menschlichen Lebens, das Schutzwürdigkeit verdient, selbst zu definieren.
Dass mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle ein konkretes menschliches Individuum entstanden und ein Prozess in Gang gekommen ist, der erst mit dem Tod des Individuums endet, wird völlig außer Acht gelassen. Stattdessen wird der Eindruck erweckt, als sei ein Schwangerschaftsabbruch moralisch der Masturbation gleichzustellen. Ein hilfreicher Beitrag für die Diskussion, wie wir gesetzlich sowohl dem Schutz menschlichen Lebens wie auch der Konfliktsituation von Schwangeren gerecht werden können, ist dies jedenfalls nicht. Aber vielleicht bin ich als "XY-chromosomaler Mensch" (so die Bezeichnung von Menschen männlichen Geschlechts im Artikel von Frau Pollatschek) nicht in der Lage, die Konsistenz der Argumentation der Autorin zu erfassen. Ich bitte, meinen polemischen Unterton an dieser Stelle zu entschuldigen.
Georg Gruber, Ruhpolding
Hinweis
Leserbriefe sind in keinem Fall Meinungsäußerungen der Redaktion, sie dürfen gekürzt und in allen Ausgaben und Kanälen der Süddeutschen Zeitung, gedruckt wie digital, veröffentlicht werden, stets unter Angabe von Vor- und Nachname und des Wohnorts. Schreiben Sie Ihre Beiträge unter Bezugnahme auf die jeweiligen SZ-Artikel an forum@sz.de. Bitte geben Sie für Rückfragen Ihre Adresse und Telefonnummer an. Postalisch erreichen Sie uns unter Süddeutsche Zeitung, Forum & Leserdialog, Hultschiner Str. 8, 81677 München, per Fax unter 089/2183-8530.