30 Jahre Deutsche Einheit:Was noch fehlt

Warum wurde der Feiertag dieses Jahr so wenig beachtet? Wegen der Pandemie sicherlich, aber auch, weil viele Bürgerinnen und Bürger sich mit dem Erreichten zufrieden geben, auch wenn längst nicht alles rund läuft. Was noch verbessert werden muss.

BERLIN WALL

Der schönste Moment: Tanz auf der Mauer im November 1989. Danach begann ein für viele auch mühsamer Prozess der Vereinigung zweier deutscher Staaten.

(Foto: Thomas Kienzle/Associated Press)

Zu "Entspannung" vom 9. Oktober, "Das Streiflicht" vom 2./3./4. Oktober sowie zu "Wie aus dem Tollhaus", 30. September:

Ein unehrliches Ritual

Ich stimme Herrn Frei im Kommentar "Entspannung" zu, dass der Tag der Deutschen Einheit in diesem Jahr besonders auffällig an den Deutschen vorbeirauschte. Der Grund ist aber nicht, dass das Leben der Ost- und Westdeutschen inzwischen ineinander verschränkt ist. Das war es auch in den 1990er-Jahren. Geändert hat sich vielmehr der Umgang der Ostdeutschen mit den anhaltenden ökonomischen und sozialen Benachteiligungen wie Lohnungleichheit oder dem mangelnden Zugang zu Führungspositionen.

Auch folgt der Feiertag seit Jahrzehnten einem als unehrlich empfundenen Ritual: Zum 3. Oktober werden die Wende, die Einheit und die wichtige Rolle der Ostdeutschen gewürdigt, und am 4. Oktober ist wieder alles irrelevant. Beispiel: Nach der Einheit erarbeiteten Ost- und Westdeutsche den Entwurf für eine gemeinsame neue Verfassung. Dieser enthielt Elemente des Verfassungsentwurfs des runden Tisches. Zwar wurde das Grundgesetz seit der Einheit mehrfach geändert. Aber der Verfassungsentwurf mit ostdeutscher Prägung verschwand in der Schublade.

Ein Großteil der Ostdeutschen akzeptiert diese bedeutungslosen Rituale und die Benachteiligungen inzwischen als nicht änderbar. Wie viele Migranten auch haben sie sich eingerichtet und nehmen keinen großen Anteil an der Bundespolitik. Auch wenn diese Menschen sich außerhalb des westdeutsch geprägten Parteiensystems bewegen, sind sie oft lokalpolitisch sehr aktiv. Ein kleiner Teil Ostdeutscher hat sich politisch radikalisiert. Ostdeutsche Bedürfnisse werden dann zusammen mit verbalen Angriffen auf Demokratie und Rechtsstaat kommuniziert. Dass der Tag der Deutschen Einheit 2020 vorbeirauschte, kann auch ein Zeichen dafür sein, dass wie bei der pandemischen Verbreitung eines Virus über lange Zeit unerkannt das Vertrauen in Demokratie und Rechtsstaat abnimmt und plötzlich demokratiefeindliche Parteien an die Macht bringt.

Klaus Müller, Berlin

Datum sicherte Wahlrecht für alle

Der Termin für die Unterzeichnung des Einigungsvertrages am 3. Oktober 1990 war auch wegen der bevorstehenden Bundestagswahl kritisch. Nach Artikel 39 des Grundgesetzes muss der Bundestag alle vier Jahre gewählt werden. Der 11. Bundestag wurde am 25. Januar 1987 gewählt. Der späteste Wahltermin für eine gesamtdeutsche Wahl zum 12. Bundestag war mithin der 21. Januar 1991. Nach Paragraf 18, Absatz 2 des Bundeswahlgesetzes müssen Parteien bis "spätestens am siebenundneunzigsten Tage vor der Wahl bis 18 Uhr dem Bundeswahlleiter ihre Beteiligung an der Wahl schriftlich angezeigt haben". Um Ostdeutschen eine Beteiligung an der Wahl zu ermöglichen, musste der Einigungsvertrag also vor dem 15. Oktober 1990 unterschrieben werden.

Bei einem späteren Termin hätten die Westdeutschen den 12. Bundestag alleine wählen müssen. Wie diese Wahl ausgegangen wäre, kann natürlich niemand sagen. Wäre der Einigungsvertrag nicht vor dem 15. Oktober 1990 unterschrieben worden und hätte Kohl die dann rein westdeutsche Wahl gegen die SPD verloren, hätte Oskar Lafontaine mit Lothar de Maizière weiter über die Vereinigung verhandeln müssen.

Prof. em. Wolfgang Kleinwächter, Leipzig

Gedanklich ist Trennung noch da

"Nach dreißig Jahren jedenfalls ist die Vereinigung geglückt, an der Einheit wird noch gearbeitet." Wie wahr dieser Satz im Streiflicht der SZ-Ausgabe zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober nach wie vor ist, zeigte auch die Titelseite aufs Trefflichste: Auf der Seite prangte eine Grafik, die die Ergebnisse einer Meinungsumfrage darstellte, und zwar säuberlich getrennt nach West- und Ostdeutschland. Diese Unterscheidung hat natürlich auch ihre verständlichen Gründe, zeigt aber eben auch, dass die wirkliche Einheit gedanklich noch lange nicht erreicht ist. Wir feiern die Einheit, trennen aber weiter schön ordentlich nach Ost und West; dieses Dilemma wird uns wohl auch die nächsten 30 Jahre noch begleiten.

Cornelia Schubert, Stuttgart

Sozialstaat sukzessive zerstört

Wir im Westen, allen voran Helmut Kohl, haben viel zu wenig dafür getan, die vielschichtigen Folgen und Umstände verstehen zu wollen, und dafür Sorge zu tragen, dass die Einheit mit Respekt vor dem Leben der Menschen, vor allem der Älteren und Frauen, organisiert wird. Ich war damals ein großer Bewunderer Michail Gorbatschows, dem wir das alles zu verdanken haben, und dessen Vertrauen Helmut Kohl, nicht nur durch die Nato-Osterweiterung, für die er sprach, verraten hat, sondern auch durch den häufig missbräuchlichen wirtschaftlichen Take-over durch westliche Unternehmer.

Aus heutiger Sicht begann mit dem Fall der Mauer die Ära der Zerstörung des Sozialstaates, der sozialen Marktwirtschaft und ab 1998 auch bei uns die Entfesselung eines skrupellosen Finanzkapitalismus. Gesunde Strukturentwicklung? So etwas sieht anders aus.

Kai Hansen, Nürtingen

Blühende Landschaft geht anders

Der Ministerpräsident Baden-Württembergs, Winfried Kretschmann, vertrat zum Tag der Einheit die Meinung, dass die Prophezeiung von Helmut Kohl mit den "blühenden Landschaften" sogar in Erfüllung gegangen sei. Hier stellt sich die Frage: Was verstand Herr Kohl, beziehungsweise was versteht Herr Kretschmann unter "blühenden Landschaften"? Sind es blühende Gewinne und sprudelnde Kassen der Einheitsgewinnler oder von Elon Musk, der mit seiner "Gigafactory" in Brandenburg die Wälder zubaut? Sind es die gelb blühenden Monokulturen auf den riesigen Flächen der ehemaligen Produktionsgenossenschaften, die eine agrarindustrielle und damit umweltschädliche Wirtschaftsweise im großen Stil repräsentieren? Oder sind die riesigen Windparks westdeutscher Energiekonzerne gemeint, welche große Bereiche der neuen Bundesländer in technische Industrieanlagen verwandelt haben? Sind es die vielen Jobs der Wessis in den Führungspositionen der Ex-DDR?

Die Begrifflichkeit der "blühenden Landschaften" von Helmut Kohl sollte Positivismus verbreiten wie das "Wir schaffen das" der Kanzlerin heute. Die Realität der Wiedervereinigung verbreitet eher das Gegenteil.

Conrad Fink, Freiberg am Neckar

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