25 Jahre Rechtschreibreform:Viel Anspruch, wenig Frieden

"Keiser" und "Bot" haben sich nicht durchgesetzt, und "Ketschup" ist auch nicht das größte Problem. Wo bleiben die versprochenen Vereinfachungen? SZ-Leser und -Leserinnen blicken kritisch zurück.

SZ-Karikatur, 25 Jahre Rechtschreibreform, 16.10.2021, Forumsseite überregional, SZ-Zeichnung: Karin Mihm

SZ-Zeichnung: Karin Mihm

Zu "25 Jahre Sprachverhunzung" vom 5. Oktober:

Das ging daneben

Als die Rechtschreibform 1996 kam, war unsere Tochter in der Grundschule und musste die deutsche Schrift-Sprache lernen. Ich verzweifelte ob der vielen Unsinnigkeiten. Und das Schlimmste daran war, dass ausgerechnet meine Generation, die der Alt-68er also, für diesen Unsinn verantwortlich war! Man wollte es den Kindern - vor allem benachteiligten - leichter machen. Sie sollten so schreiben dürfen, wie sie es hörten. Ich bin kein Linguist, sondern Chirurg und Proktologe. So wie ein Kind weder weiß, wie es Schokolade, so weiß es auch nicht, wie es Hämorrhoiden schreiben soll (wobei das in diesem Alter kein drängendes Problem ist). Man darf aber seit 1996 statt "Hämorrhoide" (etymologische Schreibweise) "Hämorride" schreiben. "Hämorride" mit sich anbietender Betonung auf dem "i" klingt, wie wenn ein Hesse seinen Kumpel fragt: "Ei Schorsch, hast du aach Hämorride?".

Versteht ein Kind den Unterschied der Schreibweise? Macht ihm dies das Schreiben einfacher? Als ob der Verzicht auf die etymologische Schreibweise, die den Zusammenhang mit der Herkunft eines Wortes herstellt ( wofür man sich ab 1996 wohl nicht mehr zu interessieren brauchte) das Erlernen der "Recht"-schreibung erleichtern würde. Ich empfinde das auch als "Verhunzung" der Sprache. Ich "liebe" auch die entsprechend verhunzende Regel (Duden D54) bezüglich Getrennt- und Zusammenschreibung. Sie lautet: "Ist der erste Bestandteil ein Substantiv, dann gilt, Getrenntschreibung ist der Normalfall". Statt "Kunststopfen" muss ich jetzt also "Kunst stopfen" schreiben - da wird die Kunst zur Gans.

Es ist wie mit der Illusion, dass Esperanto die internationale Verständigung erleichtern würde. Auch diese Sprache muss ich erst lernen. So doch auch das Schreiben aller Wörter, die ich als Kind schon längst sprechen kann. Bekanntlich wird aus "I got the power" schon mal "Agathe Bauer". Da hätte man dann eigentlich Englisch gleich mitgelernt...

Dr. med. Helmut Grosch, Moers

Nördliche Einflüsse

"Das" und "dass" klingen keineswegs gleich. Im süddeutschen Sprachgebrauch ist klar, dass das (!) ein Unterschied ist. "Das" und "dass" gleich auszusprechen beruht auf der sogenannten Auslautverhärtung, einem Merkmal norddeutscher Sprache und unüblich in süddeutscher, österreichischer und schweizerdeutscher Sprache. Deshalb heißt der Schmied in Norddeutschland Schmitt. Mit zunehmender Verbreitung norddeutscher Mundart ändert sich der Sprachgebrauch, in Schreibschrift werden "das" und "dass" kaum noch korrekt unterschieden. Sprachverhunzung?

Dr. Carl Michael Hartmann, München

Immenser Schaden

Nele Pollatschek macht sich in ihrem Artikel über die Proteste gegen die Rechtschreibreform lustig, unter anderem über die von mir auf der Buchmesse vor 25 Jahren initiierte "Frankfurter Erklärung zur Rechtschreibreform". Dieser von 400 Autoren, Professoren, Verlegern und anderen unterzeichnete Aufruf prophezeite, dass die Einführung der Rechtschreibreform "Millionen von Arbeitsstunden vergeuden, jahrzehntelange Verwirrung stiften, dem Ansehen der deutschen Sprache und Literatur im In- und Ausland schaden und mehrere Milliarden DM kosten würde". Das alles ist eingetroffen. Und was bleibt?

Der Artikel von Frau Pollatschek hat 954 Wörter mit 5542 Buchstaben, davon 13-mal "ss" statt "ß" (davon 10 x dass), die Großschreibung "Letztere" und die Zusammenschreibung "infrage stellen", dazu eine Schreibung aus dem 19. Jahrhundert, die 1901 bei der 2. Orthographischen Konferenz verkürzt wurde: "Schifffahrt". Das heißt: die durch diese "Reform" durchgesetzten Neuschreibungen sind lächerlich geringfügig (fast nur das "ss", das keinerlei Vereinfachung bringt), haben aber trotzdem einen immensen Schaden angerichtet: beim Schreiben, auch beim Lesen, finanziell und für das Ansehen der deutschen Sprache und Literatur.

Und jetzt sollen wir die "geschlechtergerechte" Sprache akzeptieren, die Frau Pollatschek zum Glück ablehnt!

Friedrich Denk, München

Ketschup ohne Logik

Die Euphorie von Frau Pollatschek, die im Übrigen nicht ganz zu der Ankündigung eines "wehmütigen Rückblicks" passen will, ist für mich nicht nachvollziehbar. Denn merken muss ich mir immer, wie etwas geschrieben wird. Entweder muss ich mir eben bei "Verleger" ein "e" oder ein "ä" zwischen "l" und "g" merken, letztlich bleibt doch der Aufwand des Merkens gleich.

Es erscheint zudem höchst widersprüchlich, dass Frau Pollatschek einerseits jenes "das hört man doch!" vehement als antiquiert verdammt, um jedoch anschließend die Einführung des "ss" am Wortende zu feiern - aber dafür muss ich erst einmal hören (!), ob der Vokal davor kurz oder lang ist. Zudem gab es zuvor am Wortende nur die Optionen "s" oder "ß". Durch die Einführung des "ss" am Wortende als weitere Option ist es also sogar noch unübersichtlicher geworden.

Und schließlich: Nein, sehr geehrte Frau Pollatschek, auch nach der Rechtschreibreform ist die Sprache nicht logisch geworden (vergleiche zwischenzeitlich "Ketschup"). Das war sie noch nie und wird sie auch nie sein und ist auch weder ihre Aufgabe, noch entspricht es ihrem Wesen.

Patricia Schwarz, Bonn

Dialekt als Stolperfalle

Eine Schreibregelung nach Gehör oder Sprachlogik mag gut gemeint sein und hat sich ja auch letztlich durchgesetzt. Ein Problem freilich wurde dabei nicht bedacht: die Dialektfärbung der Sprache. So hab ich mich grundsätzlich mit der Schreibreform arrangiert, aber in ein oder mehreren Fällen versage ich dabei regelmäßig. So schreibe ich, wider besseres Wissen, immer wieder "Spass", obwohl doch "Spaß" richtig wäre. Aber welcher bairisch sozialisierte Mensch sagt "Spaaaß"? Im Österreichischen akzeptiert man "Spass" als Schreibvariante, warum nicht auch in Deutschland? Ist da vielleicht ein norddeutscher Rassismus am Werke?

Wieso soll ich "Mettwurst" schreiben, wo mein Sprachzentrum Metwurst ("Meetwurscht") sagt? Wirklich ernst wird es bei "lass" (von "lassen"), das ja schon mal mit ß geschrieben wurde und so im Süden auch gesprochen wird ("laaß ma doch mei Rua!), aber nun ein Doppel-S bekommen hat: "Lass die Finger da weg!". Das klingt wie Peitschenknall. Viele dieser scheinlogischen Änderungen deuten tatsächlich auf einen übermäßigen Einfluss des Nordens auf unsere Sprache hin. Dabei hat sich das Hochdeutsche doch mal aus dem Oberdeutschen entwickelt. Doch was soll's? Zähneknirschend schreibe ich "lass" und "muss" und "iss" und korrigiere "Spass", wenn meine Finger es wieder mal falsch gewusst haben. Man will ja kein Don Quixote sein.

Andreas Kalckhoff, Stuttgart

Inaff is inaff

Sie machen sich lustig über die heftigen Gegenreaktionen, die die sogenannte Rechtschreibreform Mitte der 90er-Jahre ausgelöst hat, da die Reformer doch (angeblich) so hehre Ziele gehabt hätten. Diese milde Sicht auf die eifrigen Sprachreformer, die sich in Kollaboration mit willfährigen und zutiefst provinziellen Kultusministern und -ministerinnen über die herkömmlichen Sprachregeln hermachten, könnte auch damit zusammenhängen, dass Sie 20 Jahre jünger sind als ich und damals nicht bewusst dabei waren. Lassen Sie also Opa mal vom Krieg erzählen: Wenn man die erste Rechtschreibreform von 1996 noch mal im Detail betrachtet, kommen die meisten sprachbewussten Menschen auch heute noch zu dem Schluss, dass es überaus angebracht war, gegen all diesen Mist Sturm zu laufen, der da einem ganzen Sprachraum zugemutet wurde. Gottlob blieb der Druck über die Jahre so groß, dass vieles gar nicht erst umgesetzt wurde ("Keiser" oder "Bot") oder später zurückgenommen wurde (man denke nur an unsägliche Worttrennungen wie "A-natomie", die jedem Typografen das Wasser in die Augen trieben). Die Gegner dieser Rechtschreibreform (die tatsächlich in weiten Teilen eine grobe Sprachverhunzung darstellte und nur scheinbar eine Vereinfachung gewesen wäre) sollten lieber gefeiert anstatt ironisiert werden. Und noch eine Bemerkung sei erlaubt: Orthografie hat meiner Ansicht nach wenig mit "Laut-Buchstaben-Zuordnung" zu tun (wie Sie offenbar meinen), dafür aber viel mit Optik. Oder lesen Sie Bücher und Zeitungen laut? Nichts würde für Menschen mit Legastheniehintergrund leichter, wenn sie "Mos" statt "Moos" oder "Tron" statt "Thron" schreiben dürften. Sie lebten doch lange in Oxford und Cambridge: Käme dort irgendjemand auf die Idee, die englische Orthografie nach der gesprochenen Sprache zu ändern? Es wäre undenkbar. Inaff is inaff.

Stephan Landshuter, Weilheim

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