Zukunft der Arbeit:Klassenkämpfer war einmal

Die Berufswelt wird flexibler und individueller. Dadurch wandelt sich auch die Rolle der deutschen Gewerkschaften. Und allmählich ändern die ihr Selbstverständnis. Sie wollen für junge Arbeitnehmer wieder attraktiv werden.

Detlef Esslinger

Es war eine sehr kleine Branche, in der dieser Arbeitskampf tobte; kein Vergleich zum öffentlichen Dienst oder zur Metallindustrie, wo es immer gleich um die Gehälter von mehreren Millionen Arbeitnehmern geht. Bloß 14.000 Beschäftigte. Trotzdem war es ein Arbeitskampf, der verdeutlicht, vor welchem Problem Gewerkschaften dabei grundsätzlich stehen. Denn die Auseinandersetzung, die im August nach einem Jahr zu Ende ging, hatte auch ein Ergebnis zur Folge, das im Grunde voraussehbar war. Es tritt oft ein, wenn Gewerkschaften gewissermaßen zu erfolgreich sind, wenn sie durchsetzen können, was sie sich vorgenommen haben.

Lastwagen-Demo für Speditionstarif

Neben einem Lastwagen steht ein Schild der Gewerkschaft Verdi mit der Aufschrift "Streik".

(Foto: dpa)

Im Fall der Redakteure haben Verdi und der Deutsche Journalistenverband (DJV) das Ansinnen der Verleger abgewehrt, den Nachwuchs pauschal um 15 Prozent schlechter zu bezahlen als etablierte Redakteure. Es war ein Erfolg, mit dem die beiden Gewerkschaften anfangs selber kaum gerechnet hatten - der aber auch dazu führte, dass wieder drei Verlage mehr künftig gar nicht mehr nach Tarif bezahlen möchten. Insgesamt 45 Zeitungen verfahren inzwischen so. Das erleben Gewerkschaften in nahezu allen Branchen: Eine Firma tritt aus dem Arbeitgeberverband oder zumindest aus dessen Tarifgemeinschaft aus; dieses Problem wird für Gewerkschaften seit Jahren eher größer als kleiner.

Tarifverhandlungen zu führen, das ist das Kerngeschäft einer jeden Gewerkschaft. Deshalb fingen Arbeiter im 19. Jahrhundert ja an, sich zusammenzuschließen: Weil sie nur im Kollektiv die Möglichkeit hatten, ihre Arbeitsbedingungen mitzubestimmen. An dieser Gefechtslage hat sich seitdem nichts geändert, nur eine Minderheit von spezialisierten, besonders gefragten Arbeitnehmern ist in Vertragsverhandlungen alleine erfolgreicher als im Kollektiv.

Auf den ersten Blick waren die deutschen Gewerkschaften vor allem während dieses Boomjahres 2011 ziemlich erfolgreich im Kerngeschäft. Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut der Hans-Böckler-Stiftung (die dem Deutschen Gewerkschaftsbund nahesteht) hat ausgerechnet, dass sie Lohnerhöhungen von durchschnittlich 4,7 Prozent durchgesetzt haben, ein Wert, der so hoch ist wie seit Jahren nicht mehr. Den jüngsten Erfolg gab es erst vor knapp einer Woche. "Sattes Lohnplus im Garten- und Landschaftsbau", meldete die IG Bau am letzten Augusttag. Sie setzte dort eine Erhöhung in zwei Stufen durch, um 5,6 Prozent im Westen und sogar um 6,1 Prozent im Osten.

Immer weniger Arbeitnehmer betroffen

Auf den zweiten Blick relativieren sich solche Erfolge jedoch. Die schönste Jubelmeldung nutzt ja wenig, wenn sie immer weniger Arbeitnehmer betrifft. Vor anderthalb Jahrzehnten galten Branchentarifverträge noch für 70 Prozent der Beschäftigten im Westen und für immerhin 56 Prozent im Osten. Seitdem ist die Quote Jahr für Jahr gesunken: auf 56 Prozent im Westen und sogar nur 37 Prozent im Osten. Ja, es gibt Unternehmen, die treten zwar aus der Tarifgemeinschaft aus, zahlen ihren Mitarbeitern aber trotzdem weiterhin Tariflöhne. Das sind diejenigen Unternehmen, die um alles in der Welt flexibel bleiben wollen, die auch allen Öffnungsklauseln misstrauen, die es längst in Tarifverträgen gibt, und die sich beim nächsten Umsatzeinbruch nicht erst mit Gewerkschaften herumplagen wollen. Das ist die eine Gruppe der Tarifverweigerer.

Die andere besteht aus Firmen, die relativ kalt kalkulieren: Nur wenig Beschäftigte pro Betrieb? Und die meisten von ihnen nicht sonderlich qualifiziert? Vielleicht auch noch viele Frauen darunter sowie Teilzeitkräfte? In solchen Milieus sind die Beschäftigten nur selten Mitglieder von Gewerkschaften, und auch jede Werbekampagne von denen liefe mit ziemlicher Sicherheit ins Leere. Die Firmen zahlen schlecht, weil sie meinen, sich das leisten zu können.

Was folgt daraus für Gewerkschaften? Im Fall der Friseure, Schlachthofarbeiter oder Call-Center-Beschäftigten vermutlich nicht allzu viel. Parteien brauchen Wähler, Kirchen brauchen Gläubige, Gewerkschaften aber Mitglieder. So sagt es Frank Bsirske immer, der Chef von Verdi. Der eine oder die andere aus den drei genannten oder ähnlichen Berufsgruppen wird sich gewinnen lassen, zum Beispiel mit dem Argument, dass man als Mitglied automatisch Rechtsschutz hat; die Masse aber nicht.

Löhne, von denen man leben kann, ohne dass der Staat den Job mittels Hartz-IV-Zahlungen subventionieren muss - die wird es in solchen Branchen wohl nur geben, wenn der Staat sich eines Tages zur Festlegung eines gesetzlichen Mindestlohns entschließt. Gewerkschaftern fehlt dort de facto für Tarifrunden das Verhandlungsmandat. Wenn sie etwas bewirken wollen, müssen sie die Rolle von Lobbyisten übernehmen - was so aussichtslos ja nicht sein muss: Sollte Rot-Grün in zwei Jahren im Bund regieren, dürfte die Einführung eines solchen Mindestlohns gewiss sein; möglicherweise ist die Zeit dazu inzwischen sogar so reif, dass sich jede Koalition, der nicht die FDP angehört, dazu entschlösse.

In den anderen Branchen mag Mitgliederstärke noch kein Garant für Erfolg sein; Mitgliederschwäche aber ist in jedem Fall ein Garant für Misserfolg. Die acht DGB-Gewerkschaften haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten fast die Hälfte ihrer Mitglieder verloren: 11,8 Millionen waren es 1991, nur noch 6,2 Millionen Ende 2010. Die meisten Organisationen haben den Abwärtstrend jedoch mittlerweile gestoppt.

Unattraktives Erscheinungsbild

Für die Entwicklung waren steigende Arbeitslosenzahlen verantwortlich, aber auch ein Erscheinungsbild von Gewerkschaften, das gerade junge Menschen wenig anziehend fanden: lärmend, Floskeln und überkommene Rituale pflegend, zeitweise den Schwerpunkt zu sehr auf die Straße und zu wenig auf die Betriebe legend.

Die Wirtschafts- und Finanzkrise war auch in dieser Hinsicht eine Zäsur. Michael Vassiliadis, der mit 47 Jahren vergleichsweise junge Chef der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE), hatte schon recht, als er damals formulierte: "Es herrscht ein Klima der Vernunft vor, in dem sich Arbeitgeber (und) Gewerkschaften um Gemeinsamkeiten bemühen, statt ständig in der Versuchung zu leben, zum Nachteil des jeweils anderen die Verhältnisse zum eigenen Vorteil zu kippen." Die Gewerkschaften handelten in der Krise ganz anders, als es ihrem pauschalen Image entsprach und wie sie es während der Auseinandersetzungen um die Agenda 2010 kultiviert hatten. Es blieb ihnen allerdings auch kaum etwas anderes übrig.

Das Problem ist nur: Images ändern sich immer viel langsamer als tatsächliche Handlungsweisen. Die These ist nicht allzu gewagt, dass der junge, gut ausgebildete, ordentlich verdienende - oder verdienen wollende - Arbeitnehmer von heute nicht wegen, sondern allenfalls trotz einer Mai-Demo bei IG BCE, IG Metall oder Verdi Mitglied wird. Längst vorbei sind die Zeiten, in denen der Antagonismus von Arbeit und Kapital den Zulauf garantierte; ideologische Geborgenheit bei Gewerkschaften sucht kaum jemand mehr. Und Treue zu ihnen gibt es ebenso wenig, wie es die noch zu Kirchen oder Parteien gibt. Stattdessen fragen die Leute: Was bringt mir das jeweils konkret?

Das ist der Grund, weshalb Mitarbeiter von Verdi auch jeden Rentner anrufen, sollte der zum Ende seines Berufslebens die Mitgliedschaft in der Annahme kündigen, eine Gewerkschaft von jetzt an nicht mehr zu brauchen. Ob man denn nicht wisse, dass Verdi kostenlos jeden Rentenbescheid prüft? Das ist auch der Grund, warum die IG Metall per Tarifvertrag die unbefristete Übernahme von Azubis vereinbaren will. Und das ist schließlich auch der Grund, warum fast jede Gewerkschaft ab und an einen Streik braucht, ob sie das nun zugibt oder nicht.

Der Streik bei den Zeitungsredakteuren hatte gewiss nicht solche taktischen Gründe, dazu war die Auseinandersetzung zu erbittert. Trotzdem war er als Instrument zur Mitglieder-Akquisition keinesfalls zu unterschätzen. Da standen auf einmal Nachwuchsjournalisten in den Verlagsfoyers und spürten: Wenn ich künftig nicht pro Monat auf 400 Euro verzichten will, dann sollte ich jetzt wohl streiken; falls ich aber streike, zieht der Arbeitgeber mir das vom Lohn ab - also trete ich lieber bei Verdi oder DJV ein und kriege dann mein Geld aus der Streikkasse.

Mit den Journalisten (und den Kirchenvertretern sowie Oppositionspolitikern) haben Gewerkschafter gemeinsam, dass man freie Gesellschaften daran erkennt, dass sie frei wirken können. Diese Frage stellt sich in Deutschland nicht. Hier ist die Sache ein paar Nummern kleiner, die Herausforderung aber trotzdem groß: Was aus den Gewerkschaften wird, das hängt vor allem davon ab, wie gut sie als Kümmerer, als Dienstleister sind.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: