Süddeutsche Zeitung

Zertifikate für geflüchtete Akademiker:Von vorne anfangen

Lesezeit: 4 min

Geflüchtete mit Hochschulbildung stehen in Deutschland oft zunächst vor dem beruflichen Nichts. Die Uni Oldenburg will mit einem speziellen Studienangebot gegensteuern. Doch einen Job garantiert das nicht.

Von Joachim Göres

Blaise Pokos blickt mit ernstem Gesicht in die Kamera und sagt: "Als ich meine Aufenthaltserlaubnis bekam und dann erzählte, ich habe einen Bachelor in Philosophie und Theologie aus dem Kongo, da wurde gesagt, das ist hier nichts, das ist wie ein Hobby." Das sei seine erste Erfahrung von Nicht-Anerkennung gewesen, eine Erniedrigung und die Erkenntnis: "Du bist gar nichts."

Pokos ist einer von vielen Akademikern, die als Asylsuchende nach Deutschland kamen, hier vor dem beruflichen Nichts standen - und sich nicht damit abfinden wollten. In einem Dokumentarfilm kommen Pokos und weitere Studierende zu Wort, die in den vergangenen Jahren an einer einmaligen Weiterbildung der Universität Oldenburg für Menschen mit Migrations- oder Fluchterfahrung teilgenommen haben: dem zehn Monate dauernden "Kontaktstudium Pädagogische Kompetenz in der Migrationsgesellschaft".

Wer das Kontaktstudium schafft, kann sich anschließend an einigen Unis für Pädagogik einschreiben

Professor Rudolf Leiprecht referiert vor den 25 Studierenden des aktuellen Jahrgangs über "Die soziale Konstruktion von Großgruppen". Veranstaltungen können jedoch derzeit nur als Videokonferenz stattfinden. Trittbrettfahrer, Augenhöhe, Durchsetzungsmacht, Genschere, Wortführer - viele Ausdrücke, die Leiprecht gebraucht, sind den Studierenden nicht sofort geläufig, sie stützen sich dann auf ihr Smartphone. "Wir haben alle in unseren Heimatländern studiert, wissenschaftliche Begriffe können wir uns schnell erschließen", sagt Emad Yacoub, der in Syrien arabische Literatur und weitere Fächer als Lehrer unterrichtete.

Vor fünf Jahren kam er nach Deutschland, begann die Sprache zu lernen und arbeitete in Seelze bei Hannover befristet als Betreuer von jugendlichen Geflüchteten. Eine feste Stelle im pädagogischen Bereich ist das Ziel des 40-jährigen Familienvaters - seine Chancen darauf will er durch das Kontaktstudium verbessern. Wer es abschließt, hat danach die Möglichkeit, an einigen deutschen Hochschulen mit einem pädagogischen Studium zu beginnen.

Im Kontaktstudium stehen Themen wie Grundlagen der Pädagogik, Kommunikation und Mehrsprachigkeit oder pädagogische Professionalität auf dem Programm. Neben 500 Unterrichtsstunden ist ein zehnwöchiges Praktikum in einer pädagogischen Einrichtung Pflicht. "Das Praktikum ist sehr wichtig, denn dort lernen die Teilnehmer den Arbeitsalltag etwa im Kindergarten kennen", sagt Elvira Koop, die Fachsprache Deutsch unterrichtet.

In einem Jugendzentrum könne es passieren, "dass unsere Studierenden anfangs kaum etwas verstehen, wenn Jugendliche dort ihre Zähne kaum auseinanderbekommen", sagt Koop. Und doch machen viele der Praktikanten freiwillig über die erforderliche Dauer hinaus weiter, weil der Kontakt zu Einheimischen viel bringt.

Es sind aber nicht nur Verständnisprobleme, mit denen es teils sehr erfahrene pädagogische Fachkräfte zu tun haben. "Erzieherinnen aus Russland müssen lernen, dass in einer deutschen Kita die Selbständigkeit des Kindes das Ziel ist. Und nicht das perfekte Bild oder die perfekte Bastelei", sagt Koop.

Sameha Abduljalil hat im Jemen studiert und eine Grundschule geleitet. Die Englischlehrerin weiß schon jetzt, dass sie nach dem Kontaktstudium nicht weiterstudieren wird. "Ich muss ja von irgendwas leben und deswegen Geld verdienen, da kann ich mir nicht noch ein langes Studium leisten", sagt sie. Wie sie haben die meisten ihrer Mitstudierenden wegen ihres Alters keinen Anspruch auf Bafög mehr. Abduljalil sieht das Kontaktstudium als gute Vorbereitung auf eine anschließende verkürzte Ausbildung zur Sozialassistentin - danach könnte die einstige Schulleiterin als Zweitkraft in einem Kindergarten arbeiten.

Seit 2004 gibt es das Kontaktstudium der Uni Oldenburg. Die Grundstruktur ist geblieben, die Schwerpunkte haben sich verändert. Zunächst stand das Thema interkulturelle Kompetenz in pädagogischen Arbeitsfeldern im Mittelpunkt, von 2009 an ging es vorrangig um Schulsozialarbeit, von 2012 an konzentrierte man sich auf interkulturelle Kompetenz in Bildung, Beratung und Sozialarbeit. Seit 2015 heißt es "Kontaktstudium Pädagogische Kompetenz in der Migrationsgesellschaft".

Derzeit findet das komplette Kontaktstudium im virtuellen Raum statt. Unter normalen Bedingungen würden sich die Studierenden dreimal die Woche zu Lehrveranstaltungen in Hannover, Bremen oder Frankfurt am Main treffen, je nachdem, aus welcher Region sie kommen. Nach dem erfolgreichen Abschluss gibt es ein Zertifikat. Etwa ein Viertel der Absolventen studiert danach an der Uni Oldenburg Pädagogik, an der Uni Vechta oder der FH Hildesheim Soziale Arbeit und kann sich bestimmte Leistungen des Kontaktstudiums anrechnen lassen. In Oldenburg gibt es für Absolventen des Kontaktstudiums neben dem normalen Pädagogik-Studium eigene Kleingruppen-Veranstaltungen und eine enge Betreuung.

Obwohl Sozialpädagogen und Erzieher fehlen, ist die Jobsuche für die Absolventen schwer

Davon hat auch Thomas Safari profitiert. Er stammt aus Ruanda und hat nach einem Pharmaziestudium lange als Apotheker gearbeitet. In Deutschland erlebte er, dass geflüchtete Ärzte als Taxifahrer und Bauingenieure als Packer im Supermarkt arbeiteten - ihre Ausbildung war nichts mehr wert. Safari wollte sich nicht auf Dauer mit Hilfsarbeiten durchschlagen. Nach dem Kontaktstudium belegte er in Oldenburg "Interkulturelle Bildung und Beratung", schloss das Studium mit dem Bachelor ab und fand danach als Sozialarbeiter bei der Caritas eine Stelle.

"Die gute Betreuung trägt neben der großen Motivation der Studierenden dazu bei, dass es trotz sprachlicher Probleme kaum Abbrecher gibt", sagt Leiprecht. Er bedauert, dass andere Hochschulen kaum vergleichbare Angebote machen, obwohl der Bedarf groß sei. So geht eine Studie des Forschungszentrums des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge davon aus, dass 18 Prozent der seit 2015 nach Deutschland Geflüchteten im Herkunftsland eine Hochschule besucht haben. Dass nicht alle Absolventen des Kontaktstudiums an der Uni weitermachen, hat vor allem finanzielle Gründe. Viele hoffen, dass ihnen das Abschluss-Zertifikat auf dem Arbeitsmarkt hilft, eine unbefristete und höher qualifizierte Stelle zu finden. Dies bleibt oft ein unerfüllter Wunschtraum, obwohl in Deutschland ein Mangel an Erziehern, Sozialpädagogen und Lehrern herrscht.

Emad Yacoub ist darüber enttäuscht und fordert eine bessere Anerkennung des Studiums sowie der Berufserfahrung im Herkunftsland: "In Deutschland werden pädagogische Fachkräfte gesucht. Wir haben die benötigten Fähigkeiten und Kenntnisse und konnten im Kontaktstudium unsere Sprachkenntnisse verbessern - warum lässt man uns in Schulen und Kindergärten nicht entsprechend unserer Ausbildung arbeiten?" Bitter fügt er hinzu: "Wäre ich doch Handwerker geworden, dann hätte ich hier bessere Berufschancen."

Das Studium wird vor allem aus EU-Mitteln finanziert, die kurzfristig vergeben werden. Ende Juni wird feststehen, unter welchen Bedingungen von September an ein neuer Kurs stattfindet. Nähere Informatione n : www.uol.de/cmc/kontaktstudium

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Quelle:
SZ vom 05.06.2020
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