Süddeutsche Zeitung

Work-Life-Balance:Im Alltag Zombie, im Urlaub gestresst

Ferien. Sommer. Freiheit. Das Konzept der Work-Life-Balance suggeriert uns, nur Freizeit sei lebenswerte Zeit. Doch dieses Denken überfrachtet den Urlaub mit Erwartungen. Und macht aus uns im Arbeitsalltag wandelnde Untote. Wollen wir das?

Von Patrick Illinger

Zu den vielen in Mode gekommenen Begriffen rund um das eigene Wohlbefinden gehört neben der Wellness und dem Burn-out auch die häufig zitierte Work-Life-Balance. Als Gleichgewicht zwischen Arbeit und Leben könnte man es übersetzen. Gemeint ist natürlich die Frage, wie man das, was sein muss (die Arbeit), mit dem, was wichtig und gut ist (das Leben), in ein akzeptables Gleichgewicht bringen kann. Eine auf den ersten Blick legitime Überlegung.

Doch steckt in dieser, auch von seriösen Psychologen und Lebensberatern genutzten Begriffsbildung eine fatale Prämisse: jene nämlich, dass das eine mit dem anderen nichts zu tun habe. Dass es um ein Entweder-oder gehe: Arbeit oder Leben. Zu Ende gedacht, bedeutet es: Der arbeitende Mensch lebt nicht, sondern erwacht nur phasenweise zum Leben, wenn er sich gerade auf der richtigen Seite der Work-Life-Balance befindet. Er verbringt also einen Großteil seines Lebens als Halbtoter. Als Zombie.

Das Gefühl, nicht am richtigen Platz zu sein

Das mag überspitzt klingen und verlangt einem gut gemeinten Anglizismus vielleicht arg viel ab. Doch so ganz falsch ist die Beobachtung nicht, dass in der hochindustrialisierten, automatisierten und superproduktiven Welt eine Menge Menschen mit einem Gefühl leben, nicht am richtigen Platz zu sein und mit der Sorge, das wahre Leben laufe doch eigentlich anderswo ab. Sozialpsychologen nennen dieses Gefühl Entfremdung.

Die Folge ist, dass viele berufstätige Menschen, aber auch Schulkinder, Hausfrauen und -männer mit heillos übersteigerter Erwartung auf jene Momente im Jahr blicken, in denen die Pflichten des Alltags wegfallen und man endlich tun kann, was das Leben lebenswert macht: abhängen, Wellness genießen, Abenteuer erleben, Kultur erkunden, oder einfach nur den Grill anwerfen und ein paar Glas Wein trinken.

Die Tourismus- und Freizeitindustrie tut das ihre, um Trugbilder zu nähren über die paradiesischen Dinge, die man tun könnte, wenn man nur die Zeit hätte. Und so geraten die Arbeitnehmer von heute - der Soziologe Heinz Bude nennt sie in Zeiten zunehmend unscharfer Grenzen zwischen Betrieblichkeit und Privatheit "Arbeitskraftunternehmer" - in genau den Stress, dem sie eigentlich entkommen wollen. Nun gilt es, die Freizeit zu organisieren, zu perfektionieren, zu optimieren.

Für die größeren Eskapaden stehen Traumurlaube zur Verfügung, für die kleinen Fluchten allerlei Entspannungsmethoden, etwa aus einschlägigen Apotheken-Ratgebern: von Qi Gong über Fußreflexzonenmassagen bis zu Atemtechniken.

Alles davon ist legitim. Die Gefahr ist, dass der Urlaub, so wie das womöglich zur Gewohnheit gewordene Feierabendbier, missbraucht wird, um dem Alltag zu entkommen, und nicht, um ein selbstbestimmtes, auch in anstrengenden Arbeitsphasen lebenswertes Leben zu bereichern. Wer Stress wie eine chronische Krankheit erlebt und Entspannung als Sehnsucht, der läuft Gefahr, dass der Urlaub nur wie ein Medikament wirkt, das Symptome bekämpft aber nicht die Ursachen.

Abnabelung vom Nachbar

Selbstverständlich kann niemand verpflichtet werden, seine Arbeit zu genießen. Auch sei das Gegenteil des Entfremdungsgefühls weder gleichbedeutend mit Glück, betont die Sozialphilosophin Rahel Jaeggi, noch führe es in einen harmonisch-konfliktfreien Zustand. Doch ist es definitiv ein besseres Lebenskonzept, mit seinem Alltag ins Reine zu kommen, als krampfhaft die Auszeiten zu perfektionieren.

Auch wenn der Nachbar schon wieder in die Karibik fliegt. Der Saukerl.

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SZ vom 27.07.2013/jobr
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