Süddeutsche Zeitung

Wissensverfall:Geschichte fällt aus

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Der Mauerbau jährt sich in diesen Tagen zum 47. Mal. Deutsche Schüler wissen erschreckend wenig über die DDR - und auch die Kenntnise über die Bundesrepublik sind dürftig.

Tanjev Schultz

Niemand verlangt von Geschichtslehrern, dass sie ihren Schülern eine monströse Reihe historischer Daten eintrichtern, bis diese sie im Schlaf herunterbeten können. Faktenhuberei ist out. Es kommt auf die Zusammenhänge an, lautet das klassische Argument dazu. Selbst wenn Namen und Zahlen nicht immer Schall und Rauch sind - im Google-Zeitalter findet man sie ja ganz leicht wieder.

Und doch gibt es Momente, da wünschte man sich mehr Sinn für ein schlichtes Datum. 13. August 1961: der Mauerbau, die deutsche Teilung. Ein Tag, von dem ausgehend viele ergreifende und erschreckende Lebensgeschichten erzählt werden können. Die Hälfte der deutschen Schüler zuckt aber mit den Schultern. Jahr des Mauerbaus: Wann war das?

Ein normaler Geheimdienst

Diese Unkenntnis wäre leichter zu ertragen, wenn die Jugendlichen zumindest über eine starke historische Urteilskraft verfügten und den DDR-Staat richtig einzuordnen wüssten. Aber auch davon kann keine Rede sein. Dies jedenfalls zeigt eine Studie, die Berliner Forscher zum DDR-Bild 15- bis 17-jähriger Schüler in vier Bundesländern vorgelegt haben. Demnach betrachtet in Westdeutschland jeder dritte, in Ostdeutschland sogar jeder zweite Jugendliche die DDR nicht als Diktatur. In Brandenburg verharmlosen mehr als die Hälfte der Schüler auch die Stasi. Sie nennen sie einen normalen Geheimdienst, "wie ihn jeder Staat hat".

Solche Fehlurteile kann man sicher nicht allein den Schulen und Lehrern anlasten. In Brandenburg lassen sich viele Jugendliche offenbar auch von der Ostalgie ihrer Eltern und Großeltern beeindrucken. Aber die Kenntnisse der Teenager in Nordrhein-Westfalen und in Bayern sind auch nicht gerade großartig. Die wenigsten Schüler wissen, dass es in der DDR bis weit in die achtziger Jahre hinein die Todesstrafe gab. In einem DDR-Gesetzeskommentar hieß es übrigens, die Todesstrafe sei ein "Gebot sozialistischer Gerechtigkeit".

Zahlen und Ereignisse pauken

Diejenigen Schüler, die viele Fakten kennen, beurteilen die DDR kritischer als die Unwissenden. Stupide angeeignetes Sachwissen kann den Blick für Zusammenhänge trüben - wer aber ohne Kenntnis wichtiger Fakten seine Urteile fällt, ist ein Tor. Die Lehre daraus ist nicht, dass die Schüler künftig nur noch Zahlen und Ereignisse pauken sollten. Sie müssten vielmehr erfahren, wie faszinierend die Zeitgeschichte ist. Wer sich fesseln lässt von den Schicksalen der Mauerflüchtlinge, wird auch das Datum nicht vergessen, an dem ein Staat so dreist war, seine Bürger kollektiv einzusperren.

Bisher wird in den Schulen vor allem die Gründungs- und die Endphase der DDR behandelt. Der politische und soziale Alltag und die alltägliche Repression kommen kaum vor, es sei denn, ein Lehrer ergreift von sich aus die vielen Möglichkeiten, die Geschichte mit Hilfe von Zeitzeugen und Exkursionen anschaulich zu machen. In Unterrichtseinheiten zum Nationalsozialismus nutzen mittlerweile viele die Angebote von Überlebenden, die Schulen besuchen und mit ihren authentischen Erzählungen in einer Stunde mehr bewirken können als der Lehrer im ganzen Jahr.

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Neugierde ist der Schlüssel zum Erfolg

Die Pisa-Studien haben die Aufmerksamkeit auf die Defizite gelenkt, die die Schüler im Rechnen und im Verstehen von Texten haben. Wie sollen diese Jugendlichen in Geschichte glänzen? Wenn es bei jedem fünften 15-Jährigen schon an fundamentalen Fähigkeiten fehlt, kann man dann ein ausgeprägtes historisches Bewusstsein erwarten? Eher nicht. Allerdings: Ein Geschichtslehrer, der es schafft, Neugierde zu wecken, könnte es auch schaffen, aus Gelegenheitslesern Vielleser zu machen. Er darf, zumal in der Hauptschule, die Jugendlichen niemals abschreiben.

Geschichte betrifft alle, kein Bürger entrinnt ihr, jeder ist ein Teil von ihr. Und die Geschichte des Nationalsozialismus und die Geschichte der DDR sind für die Deutschen noch immer ziemlich nah. Die Lehrer sollten ihren Schülern manches zumuten und vieles zutrauen: Sie recherchieren, reisen und Material sammeln lassen; sie beauftragen, Broschüren, Hörspiele und Ausstellungen zu gestalten. Wenn man ihnen genügend Zeit für die Zeitgeschichte lässt, müssen sich die Lehrer nicht damit begnügen, ein paar dürre Daten aus dem Schulbuch zu referieren.

Rhythmus des Unterrichts selbst bestimmen

Sicher kann man nun auch die Lehrpläne überprüfen. Werden der Nationalsozialismus und die DDR ausreichend behandelt? Ausgerechnet in Ostdeutschland wird man zu dem Ergebnis kommen: Die DDR-Geschichte kommt zu kurz. Doch es wäre niemandem geholfen, die Lehrpläne allzu detailreich mit Vorgaben zur Zeitgeschichte zu füllen. Aus gutem Grund kommen die Schulbehörden davon ab, Inhalte haarklein vorzugeben.

Die Pädagogen sollen die Freiheit haben, den Rhythmus des Unterrichts selbst zu bestimmen und den Stoff passend auf ihre Klasse zuzuschneiden. Für Politik- und Geschichtslehrer muss es dabei selbstverständlich sein, die DDR möglichst ausführlich zu behandeln. Und sie sollten sich dabei nicht scheuen, von ihren Schülern auch die Kenntnis der einen oder anderen Jahreszahl zu verlangen. Karl Kraus warf den Deutschen vor, in ihrer Bildung nehme die "Bescheidwissenschaft" den ersten Platz ein. Leider stimmt nicht einmal das.

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SZ vom 14.08.2008/gut
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