Wiedervereinigung:"Die Stimmung war ratlos bis stinkig"

Deutsche Wiedervereinigung, 1990

Nach der Wende brach die Wirtschaft im ehemaligen Ostdeutschland zusammen. Millionen Menschen verloren ihre Jobs.

(Foto: Regina Schmeken)

Mit der Wende haben Millionen Deutsche ihren Job verloren und mussten sich beruflich neu orientieren. Vier von ihnen erzählen, wie es für sie weiterging.

Von Sarah Mahlberg

Mit der Wende waren die Karrierepläne von Millionen Deutschen in der DDR auf einmal obsolet. Sofern sie denn welche hatten: In einem Land, in dem es nicht nur ein Recht auf Arbeit, sondern sogar eine Pflicht dazu gab, war so ein Plan nicht notwendig. Arbeitsplätze wurden in den meisten Fällen zugewiesen, häufig in der Industrie und in staatseigenen Betrieben.

Plötzlich aber mussten sich die Ostdeutschen weitgehend selbst auf dem Arbeitsmarkt zurechtfinden - und das in einer Zeit, in der Tausende Betriebe dichtgemacht wurden, weil sie sich nicht mehr rentierten. 28 Jahre nach der Wiedervereinigung erzählen hier vier Menschen, wie es ihnen dabei erging.

Vom Braunkohletagebau in die Mini-Job-Laufbahn

"Bei uns in der Oberlausitz wurde Braunkohle gefördert. Nach der zehnten Klasse gingen die meisten entweder in die Grube oder ins Kraftwerk. Ich habe mich zum Kranfahrer qualifiziert und einen LKW-Führerschein gemacht. Nach der Wende war das mit der Braunkohle vorbei, 1994 wurde ich entlassen und bezog einige Zeit später Arbeitslosengeld.

2003 bekam ich vom Arbeitsamt das Angebot, als Küchenhilfe zu arbeiten - in Rüdesheim am Rhein. Ob die am Rhein keine eigenen Arbeitslosen haben, habe ich mich gefragt. Hier hätte ich den Job sofort genommen. Aber wir hatten von unserem Ersparten gerade erst ein Haus gebaut und zwei kranke Mütter zu versorgen.

Zwei Jahre später habe ich eine Weiterbildung in einer Görlitzer Werkstatt gemacht. Ein Vierteljahr lang mussten zehn junge Männer und ich dabei kleine Eisenteile sägen, bohren und feilen. Am Ende des Tages kam das Zeug in eine Schrottkiste. War das nicht ein Unsinn? Aber man wollte ja keine Sanktionen bekommen. Also war man ein wohlerzogenes DDR-Kind und hat gehorcht.

Darauf folgten dann wechselnde, befristete Ein-Euro-Jobs und ich habe Hartz IV bezogen. Der geringe Lohn war schon in Ordnung, man bekam ja etwas vom Staat, also konnte man auch was zurückgeben. Erst 2008 bekam ich eine feste Stelle beim Dorfmuseum. Den Lohn dafür übernahm zu einem Großteil das Arbeitsamt.

In dem Museum habe ich Schülerprojekte durchgeführt: mit Kindern in Zinkwannen Wäsche gewaschen, Korn gedroschen, Brot gebacken, lauter solche Sachen. Das war endlich sinnvolle Arbeit. Nach zwei Jahren stellte das Arbeitsamt die Zahlungen ein und mir wurde gekündigt, mit 700 Überstunden. Ich hatte oft am Wochenende gearbeitet, mich reingekniet. Ich schrieb sogar der damaligen Arbeitsministerin Ursula von der Leyen: "Warum darf ich nicht arbeiten? Ich möchte doch!" In der Antwort hieß es, mein Arbeitgeber hätte mich nach zwei Jahren allein bezahlen müssen.

Danach habe ich nie wieder eine feste Stelle bekommen und das war eine große Sauerei. Man will arbeiten und darf nie. Wir sind dann frühestmöglich in Rente gegangen. Das Gebettel hatten wir satt. Jetzt sind wir seit drei Jahren glückliche Rentner. Es ist gut für die Seele, dass der Stress vor jedem Termin beim Arbeitsamt endlich weg ist. Wir hätten lieber bis zur Rente im Tagebau gearbeitet. Aber wir sind beide gesund, das ist das größte Gut, das man haben kann."

Eva-Maria Gähler, geboren 1952, machte realschulbegleitend eine Schlosserausbildung für Anlagen und Geräte in Görlitz, die sie mit 17 Jahren, ein Jahr nach der Schule, abschloss. Bis zur Wende arbeitete sie im Braunkohletagebau.

"Ostdeutsche haben sich ständig entschuldigt"

"Als die Wende kam, war ich gerade in Elternzeit. Nach dem Studium der internationalen Beziehungen in Sofia hatte ich als Diplom-Ökonomin in Ostberlin eine Anstellung im Außenhandel bekommen. Als ich dann im Mai 1990 zurückkam, wurde ich direkt am ersten Tag entlassen.

Ich hatte zwei kleine Kinder und musste mich nach einem neuen Job umsehen. Das war gar nicht so leicht. Den Beruf, den ich in der DDR ausgeübt hatte, gab es nicht mehr, bei ähnlichen Jobs musste man flexibel sein - und das war ich nicht. Viele Westdeutsche haben auch überhaupt nicht verstanden, dass ich trotz der Kinder arbeiten wollte.

Dazu kam, dass so vieles in der Arbeitswelt neu für uns war. Englische Jobbezeichnungen zum Beispiel, wie Key-Account-Manager. Umgekehrt musste ich Arbeitgebern immer wieder erklären, was ich vorher gemacht hatte. Erstmal musste ich allerdings lernen, wie man in Bewerbungsgesprächen auftritt. Wir Ostdeutsche haben uns immer kleiner gemacht, als wir waren. Mir ist später oft noch aufgefallen, dass sich Ostdeutsche ständig entschuldigt haben.

Auch ich habe mich selbst zurückgestuft und im September 1990 in Westberlin im Großhandel für Molkereiprodukte angefangen. Da bin ich als Vertreterin von Haus zu Haus gezogen und habe Kunden rangeholt - manchmal wurde man auch ziemlich angeschrieen. Nach anderthalb Jahren ist der Händler Konkurs gegangen.

In einer Anzeige habe ich dann einen angebissenen Apfel gesehen und dachte: 'Mit Lebensmitteln hab ich schon gehandelt. Da kann ich mich bewerben.' So bin ich bei Apple Macintosh gelandet. Ich muss heute selbst lachen, wenn ich daran denke - wie wenig Ahnung man doch hatte! Mein amerikanischer Chef brauchte keinen analogen westdeutschen Abschluss. Er hat mir etwas zugetraut. Im IT-Bereich musste ich viel aufholen und immer, wenn ich sagte, dass ich das und das nicht wisse, meinte mein Chef: 'Du darfst nicht sagen, dass du was nicht weißt. Du musst so tun, als wenn du's weißt.' Seit 1999 bin ich bei Coca Cola und arbeite heute eng mit den Kollegen in Sofia zusammen.

Im Rückblick hat sich mein Studium nicht nur inhaltlich gelohnt. In Bulgarien hatte ich schon vor der Wiedervereinigung gelernt, wie man im Ausland zurecht kommt."

Die Mitarbeiterin von Coca Cola möchte anonym bleiben. Sie ist 1961 geboren und hat bis zur Wende in Ostberlin gelebt und gearbeitet. Heute wohnt sie in der Nähe von Potsdam.

"Rückblickend denke ich, dass die Wende zu schnell ging"

"Ich war Hausmeister in einem Kindergarten, bevor die Mauer fiel. Meine Aufgaben gingen von der Spielzeugreparatur bis hin zum Rasenmähen. Die Kinder waren dankbar und es war eine schöne Zeit. Eines Abends wurden wir zuhause von der ersten Montagsdemo überrascht. Wir haben Karten gespielt und hörten draußen plötzlich Lärm. Tausende von Menschen waren auf der Straße und demonstrierten gegen das System. Auch ich wollte die Wende. Doch rückblickend denke ich, dass sie zu schnell ging.

Papa Staat hatte den ursprünglich diakonischen Kindergarten enteignet; Kirche war ja nicht angesagt bei uns. Nach der Wiedervereinigung ging der Kindergarten zurück an die Diakonie und innerhalb von drei, vier Wochen haben wir unsere Arbeit verloren. Die Stimmung war ratlos bis stinkig. Da hat man jahrelang gearbeitet und wird einfach weggeworfen. Ich hatte mir glücklicherweise schon vorher etwas Neues gesucht. Hätte man mich nicht entlassen, hätte ich gekündigt.

Mein neuer Job war im Malerbetrieb eines Kumpels. Nach drei Jahren habe ich aber wieder die Segel gestrichen und bin 1993 in den Westen gegangen. Ich hatte Rechnungen zu bezahlen und konnte es mir nicht leisten, dass der Lohn in dem Betrieb mal kam und mal nicht. Ich habe dann in Schwaben auf dem Bau geschafft.

Mein neuer Chef hat mir etwas zugetraut. Er hat mir einen guten Start ermöglicht. Die erste Zeit bin ich noch wöchentlich gependelt zwischen Dresden und Krumbach in Schwaben. Dann hab ich eine Wohnung gefunden und wir sind drei Tage später umgezogen. Damals hielt mich nichts. Heute arbeite ich wieder in meinem gelernten Beruf: Als Fahrdienstleiter bei der Bahn in Bayern. Heimweh empfinde ich erst jetzt. Wenn ich in Rente bin, möchte ich wieder zurück. Trotzdem war es für mich der richtige Weg, in den Westen zu gehen."

Maik W. wurde 1967 in Meißen in Sachsen geboren, ist gelernter Eisenbahntransportfacharbeiter und hat erst als Stellwerkswärter und dann bis zur Wende in einem städtischen Kindergarten in Dresden Neustadt als Hausmeister gearbeitet.

"Die Umschulung hat gar nichts genutzt"

"Als Mädchen von 16 Jahren habe ich in der DDR Fräser gelernt. Eigentlich wollte ich zur Elektronik, aber da bekam ich eine Absage. Fräser zu werden, war also nicht mein Traumberuf. Irgendwie bin ich dann an der Zweigstelle Gera gelandet - mit meinem jetzigen Mann als Lehrausbilder. Wir haben uns direkt neben der Fräsmaschine kennengelernt.

Unsere Zweigstelle hat Panzerteile hergestellt, für die Nationale Volksarmee, aber auch für die Sowjetunion. Das war streng geheim, nichts davon durfte nach außen dringen. Offiziell waren wir für Ersatzteile größerer Maschinen zuständig. Dass diese Maschinen Panzerfahrzeuge waren, wurde nie gesagt.

Wenige Jahre nach der Wende ist der Betrieb pleitegegangen. Das Geld war nicht mehr da und Ersatzteile wurden nicht mehr angefordert. Ich war zu der Zeit in Elternzeit, mich durften sie nicht entlassen. Danach habe ich selbst gekündigt und im Einzelhandel bei Netto angefangen. Das war mein Glück, dass die mich gleich genommen haben.

Für meinen Mann war es schwieriger. Er hat zuerst eine Umschulung zum Fliesenleger gemacht, weil das Arbeitsamt das so wollte. Das Problem war, dass sich nach der Wende im Osten kaum jemand neue Fliesen leisten konnte. Die Umschulung hat also gar nichts genutzt. 1999 sind wir deshalb in den Westen gegangen.

Meine Eltern waren schon vorher nach Syke in Niedersachsen gezogen und meine Mutter hat mir ein Vorstellungsgespräch bei Lidl besorgt. Seit zwanzig Jahren arbeite ich da jetzt und leite inzwischen auch eine eigene Abteilung. In den Westen zu ziehen war trotzdem hart.

Ich kannte niemanden, konnte mir das Leben dort nicht vorstellen, alles war anders. Die Menschen waren teilweise so hektisch, das kannte ich von zuhause nicht. Wir haben eher alles nacheinander gemacht. Inzwischen haben wir uns aber angepasst, zumindest im Job. Da muss man eben mitziehen und kann nicht rumtrödeln.

Mein Job in der DDR war schon sehr anders als der heutige. Man hat ständig nach Öl und Bohrmilch gestunken, musste sich jeden Tag denselben Blaumann anziehen und überall hingen Sägespäne. Aber es gab auch jeden Tag neue Herausforderungen. Heute könnte ich mir nicht mehr vorstellen, in so einen Beruf noch einmal zurückzukehren."

Andrea Vogel, geboren 1970 in Prenzlau, arbeitete bis zur Wende als Fräserin bei Carl Zeiss in Gera, bevor sie in den Westen ging.

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