Wenn Arbeit krank macht:"Dieses muss ich machen, jenes und das auch noch"

14-Stunden-Tage, keine Pausen, immer mehr zu tun: Wer zu viel ackert, arbeitet sich schnell in eine psychische Krise.

29 Prozent aller Berufstätigen arbeiten einer EU-Studie zufolge ständig unter Zeitdruck. 23 Prozent fühlen sich bereits so erschöpft, dass sie keine Kraft mehr für ihr Privatleben haben. Warum Ausgleich wichtig ist, erklärt Hans-Peter Unger, Chefarzt der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie der Asklepios-Klinik in Hamburg-Harburg.

14-Stunden-Tage, keine Pausen, immer mehr zu tun: Wer zu viel ackert, arbeitet sich schnell in eine psychische Krise.

Rücken- oder Magenweh sind die ersten Anzeichen einer Erschöpfung. Am Ende droht im schlimmsten Fall eine Stressdepression.

(Foto: Foto: photodisc)

SZ: Macht Arbeit krank?

Unger: Unter bestimmten Umständen: ja. Wer sich ausschließlich auf seinen Job konzentriert, wer Familie, Freunde und Freizeit vernachlässigt, wer über das, was er täglich tut, kaum entscheiden kann oder sich kräftemäßig längere Zeit überfordert, wird sich irgendwann gestresst und erschöpft fühlen. Wer dann trotzdem weiterackert, arbeitet sich regelrecht in eine psychische Krise.

SZ: Manchen Menschen scheinen weder 14-Stunden-Tage noch volle Schreibtische etwas auszumachen. Warum kommen sie mit Druck besser klar als andere?

Unger: Stress ist etwas höchst Subjektives. Wie jemand mit Belastung umgeht, hängt von vielen individuellen Faktoren wie Genen, Persönlichkeit, Bildung und Erfahrung ab. Außerdem: Je mehr jemand mit sich im Einklang ist, je mehr er sich selbst und seine privaten Beziehungen wertschätzen kann, desto stressresistenter ist er. Wer dagegen seinen Selbstwert hauptsächlich aus der Arbeit zieht, ist natürlich gefährdet, sobald sich in diesem Bereich etwas verändert.

SZ: Sind Perfektionisten besonders anfällig für Stress?

Unger: Ja, ebenso wie sehr ehrgeizige und leistungsorientierte Menschen und solche mit einem ausgeprägten Verantwortungsgefühl.

SZ: Das ist ja eigentlich nichts Schlechtes.

Unger: Nein, aber wenn ihr Selbstwert zu sehr von der Anerkennung dieser Leistung abhängt, fehlt ihnen die Flexibilität, sich in sehr arbeitsintensiven Situationen auch mal dafür zu entscheiden, eine Aufgabe nur halbgut zu erledigen.

SZ: Mit welchen Folgen?

Unger: Stressdepressionen entwickeln sich in der Regel über mehrere Jahre. Sie beginnen oft mit körperlichen Symptomen wie Rücken- oder Magenschmerzen, Muskelverspannungen, Tinnitus oder einer höheren Anfälligkeit für Infekte. Die meisten von uns kennen diese ersten Anzeichen einer Erschöpfung. In der Regel verschwinden sie nach einem längeren Urlaub oder einer Veränderung der Arbeitssituation. Doch wer aufgrund seiner individuellen Konstitution und einer extremen Arbeitsbelastung in die zweite Phase der Erschöpfungsspirale rutscht, bekommt Schlafstörungen, leidet unter Konzentrationsmangel und ist permanent müde oder gereizt. Fast alle reagieren auf diese psychischen Überlastungssymptome mit noch mehr Arbeit - und rutschen in die dritte Phase der Erschöpfungsspirale: die Depression. Deshalb ist es so wichtig, bereits die ersten, körperlichen Warnsignale wahrzunehmen und mit Ruhepausen gegenzusteuern.

SZ: Offenbar gelingt das aber nicht immer. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Unger: Durch die dauernde Arbeitslast verlieren wir manchmal das Gefühl für unsere persönlichen Bedürfnisse und Biorhythmen. Und selbst wenn wir sie kennen: Die wenigsten Umstände könnten wir sofort verändern.

SZ: Zum Beispiel?

Unger: Sobald man anfängt zu denken: "Dieses muss ich noch machen und jenes und das auch noch", sollte man unbedingt innehalten, einen Schritt neben sich treten und fragen: "Ist das realistischerweise in meiner Arbeitszeit zu schaffen?" Und falls nicht: "Will ich dieses neue Projekt wirklich übernehmen?" Es geht darum, wo und wie wir uns selbst Grenzen setzen.

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