Süddeutsche Zeitung

Weniger Fehlzeiten:Krank zum Dienst

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Mitarbeiter haben immer weniger Fehlzeiten: Aus Angst um den eigenen Job gehen viele Beschäftigte sogar krank zur Arbeit. Das neue Phänomen hat bereits einen Namen.

Guido Bohsem

Der Krankenstand in Deutschland bleibt weiterhin auf historisch niedrigem Niveau, weil sich die Menschen trotz Aufschwungs um ihren Arbeitsplatz sorgen.

Von Januar bis Juni fehlten nur 3,34 Prozent der etwa 34 Millionen gesetzlich versicherten Beschäftigten, die sich nicht fit genug fühlten. Das ergibt sich aus einer neuen Statistik des Bundesgesundheitsministeriums. Die Zahl ist genauso hoch wie die, die das Ressort für die ersten sechs Monate des vergangenen Jahres ermittelte. Der insgesamt für 2007 gemessene Wert war mit 3,21 Prozent der niedrigste seit Beginn der Messung 1970.

Erstaunliche Entwicklung

Die Entwicklung ist erstaunlich, denn sie widerspricht herkömmlichen Annahmen. In der Bundesrepublik galt bislang die Faustformel, wonach Arbeitnehmer in wirtschaftlichen guten Zeiten häufiger fehlen. Schwächelt die Konjunktur hingegen, haben sie mehr Angst um ihren Arbeitsplatz und bleiben seltener krank zuhause.

Mit dem jüngsten, seit gut zwei Jahren anhaltenden Wirtschaftsaufschwung ist diese Regel außer Kraft gesetzt. Die Deutschen kommen auch dann zuverlässig zur Arbeit, wenn die Auftragsbücher ihrer Unternehmen voll sind, die Zahl der offenen Stellen wächst und die Arbeitslosigkeit sinkt. Nach Einschätzung von Sabine Klinger, Wissenschaftlerin am Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB), dürfte der Trend anhalten: "Wir erwarten 2008 allenfalls einen minimalen Anstieg der Fehlzeiten."

Wie ist das zu erklären? Eine kürzlich veröffentlichte Umfrage des wissenschaftlichen Instituts der AOK aus dem Jahr 2007 kommt zu dem Ergebnis, dass immer mehr Beschäftigte arbeiten gehen, obwohl sie krank sind. Denn auch in guten Zeiten fürchten sie um ihren Job. So gaben 33,3 Prozent der Befragten an, auch gegen des Rat des Arztes am Arbeitsplatz erschienen zu sein. 2003 waren es noch 29,5 Prozent. Besonders deutlich zeichnet sich die Entwicklung in Firmen ab, die Personal abgebaut hatten. Hier gaben 79,2 Prozent an, sich auch bei gesundheitlichen Problemen nicht krankgemeldet zu haben (2003: 77,8 Prozent).

Vor allem Beschäftigte mit einfachen Jobs sorgten sich um ihre Arbeit. Je höher der berufliche Status, desto häufiger spielten Pflichtbewusstsein und Verantwortung eine Rolle. Auffällig ist auch, dass mehr Frauen trotz Erkrankung arbeiten gehen als Männer. Junge Beschäftigte erscheinen häufiger krank am Arbeitsplatz als ihre älteren Kollegen.

Auf der nächsten Seite: Das Phänomen, nicht krank sein zu wollen, hat bereits einen Namen.

Wirtschaftlicher Schaden durch "Präsentismus"

Das neue Phänomen hat bereits einen Namen - "Präsentismus". Mit diesem Begriff umschreiben amerikanische Arbeitsmarkt-Experten nicht nur der Umstand des arbeitenden Kranken. Zugleich wird auch der volkswirtschaftliche Schaden gemessen, der durch ihre eingeschränkte Leistungsfähigkeit entsteht.

Das Journal of the American Medical Association hält die Kosten des "Präsentismus" für dreimal höher als die, die durch Fehltage für das Auskurieren von Krankheiten entstehen. Die Wissenschaftler konzentrierten sich in ihrer Untersuchung auf Krankheiten wie Depression und Migräne, weshalb sich die Ergebnisse nicht eins zu eins übertragen lassen.

Denn in Deutschland entstehen die meisten Fehltage durch Muskel- und Skeletterkrankungen, also beispielsweise Rückenschmerzen. Danach folgen Atemwegserkrankungen wie Husten und Schnupfen. Eine immer größere Rolle spielten psychische Erkrankungen.

Für die Arbeitgeber sind die sinkenden Fehlzahlen eine gute Nachricht. Denn damit sinken ihre Kosten. Mit rund 30 Milliarden Euro pro Jahr sei die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall schließlich die teuerste, allein von den Arbeitgebern gezahlte Sozialleistung, sagt das Mitglied der Hauptgeschäftsführung im Arbeitgeberverband BDA, Alexander Gunkel.

Auch die Annahme, dass die Arbeitnehmer sich aus Sorge um ihren Arbeitsplatz nicht krankschreiben ließen, weist er zurück. Die Zahlen ließen sich besser mit der veränderten Organisation der Arbeitswelt erklären, etwa dem Anstieg der Teilzeitkräfte oder der deutlich gesunkenen Zahl der Arbeitsunfälle.

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SZ vom 29.07.2008/mei
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