Weiterbildung Geringqualifizierter:Mathe statt Maloche

Produktion PKW Reifen in Korbach

Die Arbeit am Fließband verschwindet, der Bedarf an Fachkräften steigt. An acht Standorten bietet Continental Weiterbildungen an.

(Foto: Sascha Schuermann)

Ungelernte Mitarbeiter kommen nur selten in den Genuss von Schulungen. Der Autozulieferer Continental bietet ihnen eine Berufsausbildung an - bei vollem Gehalt. Doch das reizt längst nicht alle.

Von Miriam Hoffmeyer

Fünf Jahre hat Michael Thölke schon beim Zulieferer Continental Kunststoffteile für alle möglichen Fahrzeuge hergestellt: Seitenverkleidungen, Sonnenblenden, Instrumententafeln. "Meine Maschine zu bedienen ist anspruchsvoll, man braucht sieben Monate Einarbeitung, darum macht mir die Arbeit viel Spaß", sagt der 37-Jährige.

Svenja Ehlig ist für die Endkontrolle von Keilrippenriemen zuständig, prüft Profile und Bezugslängen. Die 39-Jährige und ihr Kollege Thölke haben keine Ausbildung im Industriebereich, sondern sind angelernt. Bisher wurde ihre Arbeit gebraucht. Doch das könnte sich ändern, selbst unabhängig von der aktuellen Krise. Jobs in der Automobil- und Zuliefererbranche gelten als durch die Digitalisierung besonders stark gefährdet. Intelligente Roboter sind theoretisch schon heute in der Lage, sämtliche Routinetätigkeiten von Maschinenführern oder Qualitätskontrolleuren zu übernehmen.

Deshalb werden Svenja Ehlig und Michael Thölke nun wie viele andere Continental-Mitarbeiter zu Verfahrensmechanikern Kunststoff- und Kautschuktechnik ausgebildet. Wegen der Corona-Krise musste der Kurs im März in ein virtuelles Klassenzimmer umziehen. Noch auf unbestimmte Zeit werden die theoretischen Inhalte online vermittelt, praktische Fertigkeiten können aber schon wieder in den Ausbildungswerkstätten geübt werden.

Kurz vor dem Ausbruch der Pandemie teilten sich Ehlig und Thölke noch mit zehn Kollegen einen Seminarraum auf dem riesigen Continental-Werksgelände in Hannover-Stöcken, über dem auch an windigen Tagen ein zarter Gummigeruch hängt. An der Tafel die Schnittdarstellung einer Gewindebohrung, auf den Zweiertischen die "Fachkunde Kunststofftechnik" für Berufsschüler. Trainer Dennis Pakalski teilt ein Aufgabenblatt zur Berechnung von Toleranzmaßen für Bohrungen aus: "Hier müsst ihr das Tabellenbuch benutzen, wollen wir die erste Aufgabe mal zusammen machen?"

In diesem Jahr sollen 500 Ungelernte ihren Berufsabschluss erlangen

Die Kursteilnehmer sind zwischen Mitte zwanzig und Ende vierzig, Svenja Ehlig ist die einzige Frau. Während alle blättern, rechnen und Ergebnisse vergleichen, geht Pakalski von einem Tisch zum anderen. "Ein Mikrometer ist ein Tausendstel von einem Millimeter", sagt er. "Das heißt? Genau, drei Nullstellen hinter dem Komma."

Früher war Pakalski Schichtleiter in der Produktion, seit Oktober 2019 arbeitet er in Vollzeit für das neue unternehmenseigene Institut für Technologie und Transformation (CITT). An- und ungelernte Continental-Mitarbeiter können sich über das Institut zum Mechatroniker oder zum Verfahrensmechaniker Kunststoff- und Kautschuktechnik weiterbilden lassen, künftig sollen auch Qualifizierungen zum Elektroniker und Fachlageristen angeboten werden.

Weil die Teilnehmer schon umfangreiche praktische Erfahrungen haben, dauern die Kurse kürzer als die entsprechenden Erstausbildungen, nämlich 24 beziehungsweise 28 Monate. Während dieser Zeit beziehen die Teilnehmer ihr volles Gehalt weiter. Die Abschlussprüfung wird von den IHK abgenommen. Bislang haben 300 Mitarbeiter von zehn Standorten an CITT-Kursen teilgenommen. Insgesamt sollen in diesem Jahr rund 500 der mehr als 10 000 an- und ungelernten Continental-Beschäftigten auf den Weg zum Berufsabschluss gebracht werden. Das sind allerdings nur halb so viele, wie der Konzern vor der Corona-Krise geplant hatte.

"Lebenslanges Lernen ist in unserer Zeit der technologischen Umbrüche so wichtig wie nie zuvor", sagt Ariane Reinhart, Personalchefin und Vorstandsmitglied bei Continental. "Ein Beruf reicht nicht mehr aus, man muss bereit sein, sich immer wieder zu verändern."

Geringqualifizierte sind nicht lernunwillig, doch oft fehlt die Übung

Das haben Svenja Ehlig und Michael Thölke in ihrem Leben schon öfter getan. Thölke war nach der Schule vier Jahre lang Marinesoldat und sieht immer noch ein bisschen aus wie ein Matrose aus einem Kinderbuch: blond, frisch, Thaiboxing-Tattoo auf dem rechten Bizeps. Nach der Bundeswehr versuchte er sich kurz als Versicherungsvertreter: "Aber das war nichts für mich, ich fand es furchtbar, den Leuten was aufzuschwatzen." Thölke machte eine Ausbildung zum Maler und Lackierer und arbeitete ein paar Jahre als Geselle für eine Firma, die außer ihm hauptsächlich Leiharbeiter beschäftigte. "Ich habe da gar keine Aufstiegsmöglichkeiten gesehen. Dann hat mir ein Kumpel gesagt, dass hier Maschinenführer gesucht werden."

Auch Svenja Ehlig hat schon einige Berufe ausprobiert: Sie schloss eine Ausbildung zur Bankkauffrau ab, arbeitete als Verkäuferin im Einzelhandel und in der Gastronomie, bevor sie wegen der besseren Bezahlung in der Fabrik anfing. Von sich aus hätten die beiden keinen zweiten Berufsabschluss mehr angestrebt - neben der Schichtarbeit wäre das auch gar nicht möglich gewesen.

"Ich hatte mehr als 20 Jahre mit Lernen nichts zu tun", meint Ehlig, "dafür war neben Arbeit und Familie keine Zeit." Auch Personalchefin Reinhart sagt: "Viele Teilnehmer sind ans Lernen nicht mehr gewöhnt. Man muss auf das Individuum eingehen und fragen, welches Niveau passt zu wem?" Bei Bedarf gibt es am CITT Extraförderung in Deutsch oder Mathematik. Thölke und Ehlig brauchen das nicht, ihnen ging die Weiterbildung vor allem am Anfang eher zu langsam voran. Andere haben aber keine abgeschlossene Erstausbildung. Um sicherzustellen, dass Zeit und Mühe nicht umsonst waren, auch wenn jemand vorzeitig aufhört, sind die Weiterbildungen am CITT in Teilqualifizierungen aufgeteilt. Ihr erstes Zertifikat bekamen die Teilnehmer in Hannover-Stöcken im Mai. Bis im Herbst das zweite Modul anfängt, arbeiten sie nun an ihren früheren Arbeitsplätzen.

Aus zahlreichen Studien ist bekannt, dass Geringqualifizierte sich viel seltener weiterbilden als Höherqualifizierte. Das liegt nicht daran, dass sie generell lernunwillig wären - doch scheuen viele vor einem reinen Theoriekurs zurück und wünschen sich eher praxisbezogenes Lernen am Arbeitsplatz. Von Arbeitgebern bekommen Geringqualifizierte nur selten geeignete Angebote. Selbst dann sind die Hemmschwellen hoch, sie anzunehmen, wie Ariane Reinhart bei einem Projekt im Regensburger Continental-Werk vor zwei Jahren erlebt hat. "Wir hatten den 1400 an- und ungelernten Mitarbeitern in unserer Fertigung angeboten, ohne Einkommensverlust die Fachausbildung zum Mechatroniker zu machen", sagt sie. "Nur 30 sind darauf eingegangen. Das war ziemlich ernüchternd." Das Unternehmen habe daraus gelernt: Jetzt gehen Betriebsräte gezielt auf Mitarbeiter zu, um für die Weiterbildungen zu werben.

Die Teilnehmer werden ausdrücklich auch auf andere Jobs vorbereitet

Die Arbeitslosenquote ist bei An- und Ungelernten fast sechsmal so hoch wie bei Fachkräften. Um Arbeitslosigkeit vorzubeugen, gibt es deshalb seit Jahren staatliche Zuschüsse für Arbeitgeber, die ihre an- und ungelernten Mitarbeiter weiterbilden. Anfang 2019 trat das Qualifizierungschancengesetz in Kraft, durch das die Fördermöglichkeiten im Vergleich zum Vorgängerprogramm "Wegebau" erheblich ausgeweitet wurden: Weiterbildung wird jetzt grundsätzlich unabhängig von Qualifikation, Lebensalter und Betriebsgröße gefördert. Die Arbeitgeber bekommen nicht nur für die Lehrgänge Zuschüsse, sondern auch für die wesentlich höheren Kosten, die durch den Arbeitsausfall der Teilnehmer entstehen.

Continental gründete das CITT, weil der Konzern auf die fachpraktische Ausbildung am Standort Wert legt, die Förderung aber nur für Weiterbildungen durch zertifizierte Bildungsträger gezahlt wird. In welchem Umfang sich die öffentliche Hand an den Kosten beteiligt, behält der Konzern für sich. Laut Bundesarbeitsagentur liegt die Förderung nach dem Qualifizierungschancengesetz für große Unternehmen im Regelfall bei etwa 25 Prozent. Weiterbildungen von geringqualifizierten Teilnehmern, die zu einem Berufsabschluss führen, können mit bis zu 100 Prozent gefördert werden. Die Höhe der Zuschüsse wird für jeden einzelnen Teilnehmer mit dem Arbeitgeber-Service der lokalen Arbeitsagenturen vereinbart.

Bundesweit begannen bis November 2019 fast 30 000 Beschäftigte eine Qualifizierung, die nach dem neuen Gesetz gefördert wird - immerhin zehn Prozent mehr als im "Wegebau"-Programm. Gut zwei Drittel der Geförderten arbeiten in der Altenpflege, viele weitere bei Kurierdiensten. Vom Ziel des Gesetzes, vor allem die durch die Digitalisierung bedrohten Industriearbeiter zu erreichen, ist man also noch weit entfernt.

Das passt zu einer Untersuchung der IG Metall, für die im vergangenen Jahr etwa 2000 Unternehmen mit insgesamt 1,7 Millionen Beschäftigten befragt wurden: Mehr als die Hälfte der Unternehmen hat danach keine oder keine ausreichende Strategie, um die digitale Transformation zu bewältigen und die Zukunftschancen der Mitarbeiter zu sichern.

Bei Continental, das von der Corona-Krise schwer getroffen wurde, steht Gerüchten zufolge eine Entlassungswelle bevor. Der Konzern war jedoch schon vorher angeschlagen, im vergangenen September wurde ein Sparprogramm angekündigt. Die Teilnehmer an den Weiterbildungen sollen ausdrücklich auch für den externen Arbeitsmarkt fit gemacht werden. Svenja Ehlig und Michael Thölke hoffen, dass sie in ihrem Werk bleiben können. "Für mich soll es weiter vorwärtsgehen", sagt Thölke. "Langfristig möchte ich gerne meinen Meister machen und Schichtleiter werden. Aber nun machen wir erst mal eins nach dem anderen."

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