Weiterbildung:Auch geistig Behinderte können Lehrer werden

Lesezeit: 4 min

Auch Menschen mit geistiger Behinderung sind in Bezug auf ihre individuellen Fähigkeiten und Belastbarkeit sehr verschieden. Manche können sich zu Dozenten qualifizieren. (Foto: Diego PH /Unsplash)

Lange waren ihre Jobchancen auf handwerkliche Tätigkeiten in Werkstätten beschränkt. Nun können sich geistig Behinderte als Dozenten qualifizieren.

Von Miriam Hoffmeyer

Was bedeutet Arbeit für euch?", fragt der Dozent die 15 Lehramtsstudenten, die im Seminarraum in einem Kreis zusammensitzen. Auf einem Plakat werden die Antworten notiert: Geld verdienen, soziale Anerkennung, Erfahrung, persönliche Weiterentwicklung, soziale Struktur, Zusammenhalt. Ein ganz gewöhnlicher Anfang eines Pädagogik-Seminars - nur, dass nicht ein einziger Dozent erschienen ist, sondern sechs, die einander alle paar Minuten abwechseln. Zwei von ihnen sitzen im Rollstuhl. Und alle haben eine geistige Behinderung.

Helmuth Pflantzer arbeitete vor einem Jahr noch als Pförtner bei den Heidelberger Werkstätten der Lebenshilfe. "Ich war da zufrieden", sagt der 44-Jährige. "Aber ich hab gewusst: Da muss noch mehr kommen. Und dann kam die große Chance." Seit November 2017 wird Pflantzer an der Fachschule für Sozialwesen der Johannes-Diakonie Mosbach zur "Bildungsfachkraft" qualifiziert. Die Idee: Menschen mit geistigen Behinderungen vermitteln angehenden Pädagogen ihren Alltag und ihre Lebenswelt. Nicht, indem sie "vorgeführt" werden, sondern aktiv und mit professionellem Anspruch.

Kampf für Inklusion
:"Werden tausend Schüler dümmer, weil Henri da sitzt?"

Kirsten Ehrhardt kämpft seit Jahren dafür, dass ihr Sohn mit Downsyndrom an einer Regelschule unterrichtet wird. Im Sommer wechselt er auf die Realschule. Happy End?

Interview von Lars Langenau

In der dreijährigen Qualifizierung lernen die Teilnehmer zum einen, wie Arbeitsmarkt und Bildungssystem in Deutschland funktionieren und welche Rechte behinderte Menschen haben. Zum anderen beschäftigen sie sich mit Techniken und Praxis der Bildungsarbeit: Präsentationen und Workshops anlegen, vorbereiten, durchführen, reflektieren. Das Seminar zum Thema "Arbeit" ist schon das vierte, das die geistig behinderten Dozenten an der Pädagogischen Hochschule (PH) Heidelberg halten.

Ziel ist, für die Teilnehmer sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze zu schaffen

Ziel des Projekts ist es, nach der Qualifizierung für die Teilnehmer sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze zu schaffen. Beim Vorbild und Kooperationspartner der Johannes-Diakonie Mosbach hat das geklappt: Das der Universität Kiel angegliederte Institut für Inklusive Bildung bildet seit 2014 geistig behinderte Menschen zu Bildungsfachkräften aus, der erste Jahrgang ist inzwischen fertig und am Institut fest angestellt. Jan Wulf-Schnabel, Leiter des Kieler Instituts, erzählt von enormen Fortschritten der Teilnehmer auch in ihrer persönlichen Entwicklung: "Einer ist bei seinem ersten Seminar nach zehn Minuten erschöpft im Rollstuhl eingeschlafen, ein Jahr später hat er ganz souverän vor 400 Studenten gesprochen."

Die sechs Heidelberger Teilnehmer wurden unter 40 Bewerbern ausgewählt. Denn natürlich sind Menschen mit geistiger Behinderung in Bezug auf individuelle Fähigkeiten, Motivation und Belastbarkeit sehr verschieden. Nicht jeder ist für diese Weiterbildung geeignet. Die 28-jährige Anna Neff, die früher in einer Behindertenwerkstatt in Schwarzach im Odenwald Schrauben sortiert und verpackt hat, pendelt jetzt täglich länger als eine Stunde zur Qualifizierung nach Heidelberg. "Es ist anstrengend - abends bin ich kaputt. Aber es macht Spaß!", sagt sie.

Das Projekt zeigt, wie groß die Entwicklungschancen durch berufliche Bildung sein können. Chancen, die der großen Mehrheit der Betroffenen verwehrt sind. Soweit sie überhaupt arbeiten, geschieht das fast ausschließlich in Werkstätten für behinderte Menschen. Wer dort anfängt, durchläuft ein Eingangsverfahren, in dem bis zu drei Monate lang geprüft wird, welche Art von Beschäftigung infrage kommt. Daran schließt sich ein zweijähriger Berufsbildungsbereich an, in dem die Menschen verschiedene Arbeitsfelder der Werkstatt kennenlernen. Danach ist keinerlei Aus- oder Weiterbildung mehr vorgesehen. Was Beschäftigte dazulernen, beschränkt sich meist auf kurze Trainings, um etwa einen Gablerstapler fahren oder eine neue Maschine bedienen zu können.

Andrea Stratmann ist Vorstandsmitglied der Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen. Die Regelungen zur beruflichen Bildung hält sie für überholt: "Sie stammen aus einer Zeit, in der die Welt noch fein sortiert war nach Fähigen und angeblich Unfähigen." Es sei nicht einzusehen, dass Menschen mit Handicap nur auf zwei statt auf drei Jahre Berufsbildung Anspruch hätten. "Dazu kommt, dass viele dieser Menschen entwicklungsverzögert sind und erst spät wissen, was sie eigentlich machen wollen. Dann ist das Thema Berufsbildung aber längst abgevespert!"

Helmuth Pflantzer, Anna Neff und ihre Kollegen können an ihrer Qualifizierung nur deshalb teilnehmen, weil die Fachschule für Sozialwesen zum "Außenarbeitsplatz" ihrer Behindertenwerkstätten deklariert wurde. Sie erhalten den geringen Werkstattlohn weiter, ohne dafür eine Arbeitsleistung erbringen zu müssen. Doch müssen die Werkstätten einen Teil ihrer Kosten auf dem freien Markt erwirtschaften.

Wertevermittlung
:Wer soll nun die Kinder lehren?

Toleranz, Konfliktfähigkeit und eigenverantwortliches Handeln scheinen wichtiger denn je. Doch Institutionen, die sie vermitteln, haben an Bedeutung verloren. Eine Studie zeigt: Die Hoffnung der Familien liegt auf den Schulen.

Von Larissa Holzki

Anspruchsvolle berufliche Weiterbildung sei deshalb schwer zu finanzieren, meint Andrea Stratmann. Sie plädiert für ein individuelles Bildungsbudget für behinderte Menschen, analog zum "Budget für Arbeit", das im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes eingeführt wurde. Seit Anfang dieses Jahres steht es zur Verfügung, um Werkstattbeschäftigten den Übergang in sozialversicherungspflichtige Jobs zu erleichtern. Aus dem Budget für Arbeit werden Zuschüsse an den Arbeitgeber und die persönliche Betreuung am Arbeitsplatz finanziert, nicht jedoch Bildungsausgaben.

Rechte und Pflichten haben - wie jeder andere auch

"Der Bedarf an beruflicher Bildung in den Werkstätten ist riesengroß", sagt Heinrich Greving, Professor für Heilpädagogik an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen. "Einige Träger von Werkstätten haben genügend gut ausgebildetes Personal und engagieren sich sehr. Aber in der Breite muss sich vieles ändern - das Bewusstsein bei den Trägern, die Didaktik, die Ressourcen." In vielen Werkstätten müssten die Betreuer ein besseres Verständnis für die Bedeutung beruflicher Bildung entwickeln. "In jeder Stadt, bei jedem Träger läuft es anders", bilanziert Greving.

Das betrifft auch die Frage, ob und welche Abschlüsse vergeben werden können: Einige, aber längst nicht alle Industrie- und Handels- sowie Handwerkskammern arbeiten mit Behindertenwerkstätten zusammen und zertifizieren Teilqualifikationen. Damit können Beschäftigte belegen, dass sie bestimmte Inhalte eines Ausbildungsberufs beherrschen, etwa in den Bereichen Gartenbau, Pflege oder Gastronomie. Das kann die Jobsuche außerhalb der Werkstatt erleichtern.

Die Qualifizierung geistig Behinderter zu Bildungsfachkräften wird in weiteren deutschen Städten angeboten: Noch in diesem Jahr starten die ersten Jahrgänge in Köln, Leipzig, Dresden und Stendal. Im Seminar für Lehramtsstudenten an der PH Heidelberg fassen die behinderten Dozenten am Ende noch einmal zusammen, was Bildung und Arbeit für sie bedeuten: "Dass man Rechte und Pflichten hat wie jeder andere auch."

© SZ vom 09.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Arbeiten mit Handicap
:Verhindern Werkstätten für Behinderte die Inklusion?

Sie wollen ihre produktivsten Mitarbeiter nicht an den ersten Arbeitsmarkt verlieren. Selten gelingt der Übergang auf eine reguläre Stelle.

Von Miriam Hoffmeyer

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: