Waldorfschulen:"Schüler sind keine leeren Säcke, die man füllt"

90 Jahre Waldorfschulen: Der Lehrer und Autor Rüdiger Iwan über die Reformbedürftigkeit der Rudolf-Steiner-Pädagogik, Noten und schlechte Lehrer.

C. Bleher

Vor 90 Jahren, am 7. September 1919, gründete Rudolf Steiner in Stuttgart-Uhlandshöhe die erste Waldorfschule und brach radikal mit dem preußischen Erziehungsstil: Mädchen und Jungen jeder Herkunft sollten gemeinsam mindestens zehn Jahre lang kognitive ebenso wie soziale und künstlerische Fähigkeiten entwickeln, ohne Noten und ohne Sitzenbleiben. Doch immer wieder wird das Konzept der Waldorfschulen angegriffen - und nicht nur von Außenstehenden. Rüdiger Iwan, Waldorflehrer seit 30 Jahren und Autor des Buches "Die neue Waldorfschule - ein Erfolgsmodell wird renoviert", gehört zu den hartnäckigsten Kritikern aus eigenen Reihen.

Waldorfschulen: Waldorflehrer Rüdiger Iwan: "Generationen von Waldorfschülern haben Lehrer erlitten, die die gut eineinhalb Stunden ausnutzten, um zu dozieren."

Waldorflehrer Rüdiger Iwan: "Generationen von Waldorfschülern haben Lehrer erlitten, die die gut eineinhalb Stunden ausnutzten, um zu dozieren."

(Foto: Foto: oH)

SZ: Herr Iwan, Sie sind bekannt für Ihre starke Kritik an der Waldorfschule. Doch die Schulen sind beliebt wie nie zuvor: Allein in Deutschland gibt es mehr als 200 Waldorfschulen, und der Gründungsboom hält an. Irren die Anhänger der Waldorfpädagogik denn komplett?

Rüdiger Iwan: Ich frage mich, ob es so viele wären, wenn die Regelschule auf einer selektionsfreien Grundstufe aufbauen würde.

SZ: Suchen Eltern für ihre Kinder nicht auch das, was die Waldorfschule ausmacht: Lernen im Geiste des anthroposophischen Erfinders Rudolf Steiner statt prüfungsorientiertes Lernen im Dreiviertelstundentakt?

Iwan: Richtig, der Hauptunterricht an Waldorfschulen ist in Epochen gegliedert und vermittelt über ein paar Wochen hinweg in täglich eineinhalb Stunden am Stück einen bestimmten Stoff, und das weitgehend ohne Notendruck. Steiner nannte Fächereinteilung und Stundenplan die "Mördergrube für alles, was wahrhaft Pädagogik ist". Er wollte Inhalte so aufeinander beziehen, dass sie wie in einer Partitur als Gesamtkunstwerk erscheinen und der Entwicklung des ganzen Menschen dienen. Nur: Generationen von Waldorfschülern haben Lehrer erlitten, die die gut eineinhalb Stunden ausnutzten, um zu dozieren. Und nach dem Hauptunterricht wird ja doch wieder im Dreiviertelstundentakt unterrichtet. Die Kernfrage ist so aktuell wie zu Steiners Zeiten: Wie kann ich anregen, dass die Aktivität vom Schüler ausgeht? Für Steiner war der Schüler kein leerer Sack, den man füllen müsste.

SZ: Sie haben gerade implizit den Frontalunterricht kritisiert, wie er in Waldorfklassen mit üblicherweise mehr als 30 Kindern oft stattfindet. Aber hat nicht Steiner selbst erklärt, dass Kinder entwicklungsbedingt bis ins zweite Jahrsiebt ihres Lebens hinein lernen, indem sie ein geliebtes Vorbild nachahmen?

Iwan: Er hat es sogar noch schärfer formuliert: Das Kind nimmt durch die Autorität dasjenige auf, was es wissen, fühlen und wollen soll. An anderer Stelle aber formuliert er, der Erzieher ist immer nur die Umgebung des sich selbst erziehenden Kindes.

SZ: Klingt widersprüchlich.

Iwan: Man kommt nicht darum herum, selbst nachzudenken. Jedenfalls sollte ich als Lehrer, wenn ich mir den Status des geliebten Vorbildes erhalten will, darauf achten, vor der Klasse nicht alle Aktivität einzig für mich zu beanspruchen.

SZ: In welche Richtung wollen Sie denn die Pädagogik weiterentwickeln?

Iwan: Ein Punkt: Schüler sollten anhand ihrer eigenen Arbeiten selbst lernen, über ihre Entwicklung zu sprechen.

SZ: Sie meinen Portfolioarbeit?

Iwan: Genau, aber das ist heute ein Allerweltswort. Ich verstehe darunter, dass Schüler die Geschichte ihres eigenen Lernens erzählen lernen. Und das können sie am besten, wenn die Schule eine neue Kultur der Aufmerksamkeit im Umgang mit ihren Arbeiten schafft.

SZ: Und die Leistungsbewertung? Später zählt ja doch nur der Notenschnitt.

"Das tötet jeden Lernimpuls"

Iwan: Das hat mal einer meiner Kollegen erkundet. Er hat sämtliche Personalchefs angerufen, bei denen sich unsere Schüler beworben hatten. Mit einer Ausnahme haben alle gesagt, Noten fänden sie nicht aussagekräftig. An einer Mappe mit Arbeiten, über die der Bewerber Auskunft zu geben in der Lage ist, könnten sie viel besser erkennen, ob ein junger Mensch mit seinen Interessen und Fähigkeiten in den Betrieb passt.

SZ: In der Unter- und Mittelstufe lernen Waldorfschüler nicht aus Schulbüchern; sie führen Epochenhefte, in denen sie eigenständig festhalten, was der Lehrer im Unterricht vermittelt hat. Und das in oftmals ästhetisch ansprechender Weise. Ist das nicht schon eine Art Portfolio?

Iwan: Tatsächlich wird in meiner Schule an diesem Vorurteil hartnäckig festgehalten. Aber viele Kinder haben schon nach kürzester Zeit vergessen, was in ihren Heften steht. Und: Ich finde darin nur Lerninhalte, nicht den Lernenden selbst, ich kann nicht erkennen, was jemanden wirklich interessiert hat. Da wird einfach abgeschrieben. Das tötet jeden Lernimpuls. Und am Ende steht dann unter dem Physik-Epochenheft: "Heft: sehr gut, Bilder: befriedigend".

SZ: Die Waldorfschule ist doch eher bekannt für aufwendige Verbalzeugnisse.

Iwan: Es ist traurig, aber wahr: Eltern wollen Noten, Schüler wollen Noten und Lehrer vermissen die disziplinierende Wirkung dieser Form der Leistungsrückmeldung - zumindest, solange sie keine sinnvolle Alternative kennen. Und eine solche ist das verbale Zeugnis eben nicht. Schon wegen der Gefahr der Floskelhaftigkeit. Wenn aber Schüler anhand ihrer eigenen Arbeiten beginnen, über ihr Lernen zu sprechen, stellen alle Beteiligten erstaunt fest, wie viel hinter abstrakter Leistungsmessung sichtbar wird.

SZ: Vielen Eltern ist auch die künstlerische Arbeit sehr wichtig. Einer der Höhepunkte jeder 12. Waldorfklasse ist ja ein Theaterstück.

Iwan: Auf dem künstlerischen Gebiet waren Waldorfschulen bis in die achtziger Jahre vorbildlich. Heute sind da andere Schulen längst weiter. Sie streben dasselbe an, aber organisieren es besser. Schauspiel in der Helene-Lange-Schule in Wiesbaden zum Beispiel betreibt man über Wochen hinweg und ausschließlich. Bei uns gerät es oft zur Zerreißprobe: Erst der normale Unterricht, dann noch die Proben.

SZ: Kann man im Jahr vor dem Abitur den Fachunterricht denn wirklich einfach aussetzen?

Iwan: Die Erkenntnis in Wiesbaden war: Die kognitiven Leistungen sind besser geworden. Wegen des Theaterspielens - nicht trotz.

SZ: Können Sie als Oberstufenlehrer für Deutsch, Geschichte, Sport und Theater Ihre Art, den Unterricht zu gestalten und Leistungen zu bewerten, an Ihrer Waldorfschule in Schwäbisch Hall verwirklichen?

Iwan: Ich kann meinen Stil dort pflegen, aber die Chancen für Schulentwicklung sind sehr gering. Die Führungsfrage ist nicht gelöst. Deshalb gehe ich nach außen, kooperiere mit Schulen in freier Trägerschaft ebenso wie mit staatlichen Regelschulen.

SZ: An Waldorfschulen gibt es keinen Direktor, sondern die selbstverwaltete Lehrerkonferenz. Steiner hatte sich das Kollegium als Lehrerrepublik von Freien und Gleichen vorgestellt. Das kommt einem Reformator wie Ihnen doch zugute.

Iwan: Nur in dem Maße, als ich König in meinem Reich sein darf. So wie die Selbstverwaltung in den meisten Waldorfschulen gehandhabt wird, ist sie frei von bewusst installierter Hierarchie, aber die informellen Machtstrukturen wirken umso härter. Für Schulentwicklung fehlen oft die einfachsten Begriffe. Man studiert Steiners "Allgemeine Menschenkunde", das Bewusstsein aber, dass sich daraus noch keine Veränderung überkommener Schulstrukturen ergibt, setzt sich nur allmählich durch.

SZ: Alles, was Sie sagen, klingt wie eine Warnung an Eltern und Lehrer vor der Waldorfschule. Dennoch sind Sie Podiumsdiskutant bei der 90-Jahr-Feier in Stuttgart-Uhlandshöhe. Werden Sie da den Spielverderber geben?

Iwan: Ich werde sagen, was ich denke. Aber es gibt ja durchaus positive Impulse: Dutzende Waldorfschulen haben nach dem sogenannten Bochumer Modell zumindest in den ersten drei Jahren die Trennung zwischen Haupt- und Fachunterricht aufgehoben, Lehrer unterrichten in Tandems, und es wird vormittags auch nur ein Märchen vorgelesen statt schlimmstenfalls drei - was ein Kind ja auch überfordern kann. Ich rate jedenfalls, sich die betreffende Schule und die jeweiligen Lehrer genau anzuschauen.

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