Urteil zum Fall Emmely:Symbolfigur aus dem Supermarkt

Solidaritäts-Demonstrationen und "Emmely-Superstar"-Rufe: Die gefeuerte Kassiererin wird für ihren Sieg beim Bundesarbeitsgericht gefeiert - und erhält einen besonderen Händedruck.

Detlef Esslinger

Gleich wird der Vorsitzende aufstehen, mit seinen Kollegen ins Hinterzimmer gehen und beraten, was er verkünden soll, im Namen des Volkes - da sagt er noch den Satz, der ihn sehr unterscheidet vom Volk: "Es handelt sich um einen Einzelfall", sagt Burghardt Kreft, "und wir müssen die Umstände dieses Einzelfalls abwägen."

Bundesarbeitsrichter prüfen Fall 'Emmely'

Wird nach ihrem Sieg vor dem Bundesarbeitsgericht gefeiert wie ein Superstar: Kassiererin Emmely.

(Foto: dpa)

Einzelfall? Wenn es das wäre, hätte dieser Prozess gewiss nicht dieses Aufsehen erregt. Die Richter beraten, ob die Lebensmittelkette Kaiser's Tengelmann einer Kassiererin kündigen darf, weil die zwei Pfandbons für sich eingelöst hat, die ihr nicht gehörten; zwei Pfandbons im Wert von 48 und von 82 Cent.

Das Arbeitsgericht Berlin und das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg haben diese Frage mit ja beantwortet. Nachdem in den vergangenen Monaten mehrere Fälle publik geworden sind, in denen Arbeitnehmer wegen sechs Maultaschen oder einer Frikadelle gekündigt worden waren, gibt es nun gewisse Erwartungen an das Bundesarbeitsgericht. Es soll Schluss machen mit einer Praxis, die mit Arbeitnehmern umso unnachsichtiger zu verfahren scheint, je niedriger die in der Betriebshierarchie stehen und je geringer das Vergehen ist, das ihnen vorgeworfen wird.

Ungefragte Professoren

Professoren aus ganz Deutschland haben den Richtern in den vergangenen Wochen ungefragt Gutachten zugeschickt, wie sie in dem Fall zu entscheiden hätten. Das Medieninteresse ist so groß, dass das Bundesarbeitsgericht ein Akkreditierungsverfahren veranstaltete, und weil die Erfurter Richter so etwas zum ersten Mal machten, mussten sie sich erstmal bei ihren Kollegen vom Bundesverfassungsgericht erkundigen, wie das überhaupt funktioniert.

Vor dem Gebäude demonstriert ein "Komitee 'Solidarität mit Emmely'", es reden eine Vertreterin des DGB und einer, der als Edmund vorgestellt wird und von der Marxistisch Leninistischen Partei Deutschlands, "der hiesigen", kommt.

An der Hand von Bodo Ramelow

Als Emmely, die gefeuerte Kassiererin, sich dem Gebäude vom Ententeich her nähert, geht schnurstracks ein Mann auf sie zu, eine Batterie von Kameraleuten hinter sich her ziehend, reicht ihr die rechte Hand, legt die linke obendrauf und stellt sich vor, er sei Bodo Ramelow, Fraktionsvorsitzender der Linken im Thüringer Landtag.

Er schaut ihr tief in die Augen, lässt ihre Hand nicht los und spricht: "Ich wünsche Ihnen viel Kraft." Dann darf sie weitergehen, worauf aber gleich der Sprecher vom Solidaritätskomitee ausruft: "Hier ist Emmely, der Star des Tages!" Es gab vielleicht mal eine Phase in dieser Auseinandersetzung, da wollte diese Kassiererin einfach nur ihren Arbeitsplatz wiederhaben. Jetzt ist sie eine Symbolfigur, für alles, was gerade tatsächlich oder vermeintlich schiefläuft im Land.

Was ist bescheuerter?

Ausgelöst wurde dieser Fall dadurch, dass am 12. Januar 2008 in der Filiale von Kaiser's in Berlin-Hohenschönhausen, Ecke Hauptstraße/Rhinstraße, zwei Pfandbons liegengeblieben waren. Ein Kunde hatte sie im Backshop vergessen, der Filialleiter bat die Kassiererin, sie ins Kassenbüro zu legen, für den Fall, dass der Kunde sich noch melden sollte. Es meldete sich keiner, stattdessen aber kaufte die Kassiererin, die inzwischen unter dem Pseudonym "Emmely" in ganz Deutschland bekannt ist, zehn Tage später selber in der Filiale ein, legte dabei die beiden Pfandbons vor, 48 Cent und 82 Cent; so sparte sie 1,30 Euro auf ihren Einkauf.

Man kann sich nun fragen, was bescheuerter ist: dass sich daraufhin ein Marktleiter, eine Distriktmanagerin, zwei Betriebsräte, die Personalabteilung und anschließend ein Richter des Arbeitsgerichts, ein Richter des Landesarbeitsgerichts und jetzt drei Richter des Bundesarbeitsgerichts, Besoldungsstufen R6 und R8, macht Grundgehälter von 7979,62 und 8820,59 Euro, mit einem Vorgang von 1,30 Euro befassen? Hat man bei Kaiser's nichts Besseres zu tun, als mittlerweile zweieinhalb Jahre lang Erbsen zählen zu lassen? Oder ist es mindestens genauso bescheuert, dass eine Kassiererin, damals 50 Jahre alt, drei Kinder, seit 31 Jahren im Betrieb, wegen 1,30 Euro ihre gesamte berufliche und materielle Existenz aufs Spiel setzt?

Mitschuldige an der Kasse

Dass sie die Pfandbons an sich nahm, obwohl sie kein Recht dazu hatte - das bestreitet Emmely inzwischen nicht mehr. Dies hat sie vor den unteren Instanzen getan, nun wählt ihr Rechtsanwalt Benedikt Hopmann eine andere Strategie. Er sagt, die Pfandbons seien doch in Wahrheit herrenlos gewesen, deswegen habe Emmely sich hier weder einen Diebstahl noch eine Unterschlagung zuschulden kommen lassen.

Im Saal klatschen sie

Er fügt an, nicht nur seine Mandantin habe gewusst, dass sie die Pfandbons nicht einlösen durfte - sondern auch die Kollegin, die an der Kasse saß, als sie ihren Einkauf tätigte. Dass sie die Bons trotzdem eingelöst habe, "das muss die Beklagte (Kaiser's Tengelmann, d. Red.) sich zuschreiben lassen", sagt Hopmann. Und er kommt mit einem Vergleich: Wenn es um Geschäftsführer oder um Beamte gehe, dann urteilten die Gerichte in Deutschland längst nicht so rigide wie im Fall von kleinen Angestellten, von Pfandbons, Frikadellen und Maultaschen.

Beamte werden geschont

Hopmann sagt, er kenne keinen einzigen Fall, in dem in Deutschland ein Beamter wegen eines geringfügigen Schadens entlassen wurde, zumindest nicht beim ersten Mal - und er zitiert eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 2000. Ein Geschäftsführer hatte 597 Mark aus der Firmenkasse privat ausgegeben. Die Richter erklärten seine Kündigung für unwirksam. Hopmanns Fazit: "Eine Abmahnung hätte ausgereicht."

Das ist der eine Argumentationsstrang, ein wenig verlaufend nach der Devise: retten, was zu retten ist. Aber bei der Frage, ob ein Arbeitsverhältnis fortgesetzt werden kann oder nicht, geht es nicht nur um die Frage, ob Pfandbons herrenlos sind und ob sie auf einen winzigen Betrag lauten. Daneben geht es um Vertrauen, um jenes schwer bestimmbare Gut, das mühsam zu erarbeiten und leicht zu verlieren ist.

Ein Netz aus Lügen

Karin Schindler-Abbes, die Rechtsanwältin der Lebensmittelkette, befasst sich weniger mit der Frage, ob 1,30 Euro geeignet sind, Vertrauen grundlegend zu zerstören. Ihr Thema ist, wie Emmely sich nach dem Vorfall verteidigt hat: dass sie unter anderem eine Kollegin beschuldigte, ihr die Pfandbons ins Portemonnaie gelegt zu haben, dass sie eine andere Kollegin eines anderen Manipulationsverdachts bezichtigte; der Vorwurf löste sich bald in Luft auf. Sie sagt: "Natürlich beeinflusst es den Arbeitgeber in seiner Entscheidungsfindung, wenn ein Arbeitnehmer immer wieder lügt und sogar Kollegen hineinzieht." Nur eine Abmahnung als Konsequenz? Dadurch könne Vertrauen nicht wiederhergestellt werden.

Die Rechtsanwältin ahnt zu dem Zeitpunkt vermutlich nicht, dass sie dem Gericht damit eine Vorlage gegeben hat. Das Bundesarbeitsgericht hat in Bagatellfällen seit Jahrzehnten im Zweifel gegen den Arbeitnehmer entschieden. Legendär ist das sogenannte Bienenstich-Urteil von 1984: Es erklärte die Kündigung einer Bäckereiverkäuferin für rechtmäßig, die gegen Geschäftsschluss einen Bienenstich gegessen hatte, der sonst weggeschmissen worden wäre.

Das Vertrauens-Argument wird zerpflückt

In diesem Fall aber entschließen sich die Richter dazu, das Vertrauens-Argument des Arbeitgebers zu zerpflücken. Ja, Emmely habe pflichtwidrig gehandelt, sagt der Vorsitzende Kreft. Ja, diese Pflichtwidrigkeit sei erheblich gewesen. Aber dann führt er die lange Betriebszugehörigkeit an, dass sie sich nie Gerichtsverwertbares habe zuschulden kommen lassen. Kreft sagt: "Dadurch hat sie sich einen Vorrat an Vertrauen erworben, der nicht durch eine einmalige, erhebliche Verfehlung völlig aufgezehrt wird." Eine deutliche Warnung, die Androhung, im Wiederholungsfall zu kündigen - das hätte nach Meinung des Gerichts hier ausgereicht.

Im Saal klatschen sie, als der Vorsitzende seine Entscheidung verkündet, er hat jetzt doch noch den Punkt erreicht, wo er mit der Wendung "Im Namen des Volkes" tatsächlich dessen Gefühlslage erreicht. Emmely ballt die Faust, "Ja!", ruft sie in den Saal, Richter Kreft lässt alles gewähren. In den beiden vergangenen Jahren hat sie von Hartz IV gelebt und an irgendwelchen Kursen der Arbeitsagentur teilgenommen - wissend, dass die eigentlich großer Nonsens sind für sie, in Ostberlin, bei einer Arbeitslosenquote von 20 Prozent. Jetzt hat sie wieder eine Perspektive. Wird sie wieder arbeiten können bei Kaiser's Tengelmann? Der Vertreter des Unternehmens sitzt neben seiner Rechtsanwältin. Er antwortet: "Davon gehe ich aus." Die Kassiererin verlässt das Gericht, gibt im Vorhof Interviews, um 17 Uhr wird sie bei einer Demonstration in der Innenstadt erwartet, Emmely, der Star des Tages.

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