Ungerechtes Bildungssystem:Die Zukunft entscheidet sich im Kindergarten

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Akademikerkinder machen häufiger Abitur als Arbeiterkinder - daran ändern auch idealistische Lehrer nichts. Die Eliten-Bildung beginnt schon vor der Einschulung.

Alex Rühle

Dass das deutsche Bildungssystem die soziale Auslese fördert und Ungleichheiten reproduziert und zementiert, ist bekannt. Geradezu gebetsmühlenartig mahnt die OECD immer wieder an, dass Kinder aus bildungsfernen Schichten hierzulande geringere Erfolgschancen haben als anderswo. Und gerade erst belegten sowohl der Münchner Bildungsbericht als auch der bundesweite Ländervergleich Bildungsstandards wieder, wie skandalös eng schulische Leistungen und soziale Herkunft in Deutschland zusammenhängen. Im wohlhabenden Landkreis Starnberg schaffen 72 Prozent der Grundschüler den Sprung aufs Gymnasium, im weniger gut situierten Landkreis Dachau 36.

Die Bildungsschere öffnet sich schon in den ersten Schulwochen - die Voraussetzungen dafür werden in der Kinderbetreuung geschaffen. (Foto: ddp)

Nun wird bei der Exegese dieser Studien immer darauf hingewiesen, dass die Kinder so früh wie nirgends sonst auf der Welt nach ihren Leistungen auf die verschiedenen Schulformen verteilt und damit auch nach sozialen Schichten getrennt werden. Es stimmt schon, die ungewöhnlich große Leistungsstreuung unter den deutschen Schülern wird durch die frühe Auslese am Ende der vierten Klasse stark gefördert, man bleibt von Anfang an unter seinesgleichen. Es ist ein bildungspolitischer Skandal erster Güte, dass die Chancen eines bayerischen Akademikerkindes, aufs Gymnasium zu kommen, 6,6 mal so hoch sind wie die eines bayerischen Arbeiterkindes.

Aber die Segregation geht noch viel früher los. Wer selbst mal Kinder eingeschult hat, weiß, wie oft schon in den allerersten Wochen des ersten Schuljahres die Schere aufgeht; wie oft es die Kinder namens Mustafa oder Mesut sind, die vom ersten Tag an nicht mitkommen. Und dass noch der idealistischste Lehrer an der Aufgabe, diese Defizite aufzufangen, scheitern muss, wenn er dreißig Kinder in der Klasse hat.

Laut Münchner Bildungsbericht bräuchten 45 Prozent der Kinder vor der Schule bereits Deutschunterricht. Natürlich stellt sich da die Frage, wie das zu bezahlen sein soll. Aber auf lange Sicht würde sich ein besseres Kinderbetreuungsangebot für den Staat auf jeden Fall in Form einer enorm hohen Bildungsrendite rechnen: Das Institut der deutschen Wirtschaft Köln hat vor drei Jahren schon vorgerechnet, dass eine verbesserte und feinmaschigere frühkindliche Betreuungsinfrastruktur bis 2050 Mehreinnahmen von 14 Milliarden bringen würde. Pro Jahr. Und eine Studie des Zürcher Sozialdepartments kam zu dem ganz ähnlichen Schluss, dass "jeder Franken, der in eine Kindertagesstätte investiert wird, volkswirtschaftlich gesehen vier Franken an Nutzen" bringe: Zum einen können die Mütter Geld verdienen, vor allem aber hilft die frühe Förderung dabei, Kinder besser zu sozialisieren und zu integrieren - und spart so in späteren Jahren Sozialleistungen.

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Im vergangenen Dezember wies der Zentralverband des Deutschen Handwerks händeringend darauf hin, dass bei der wachsenden Zahl ausbildungsunfähiger Jugendlicher "späte Reparaturmaßnahmen" kaum Erfolge zeigen würden. Sprich: Wer erstmal durchs Raster gefallen ist, für den ist es sehr schwer, noch einmal aufzuholen. Deutschlandweit gehen Jahr für Jahr 17 Prozent der Schüler ohne Abschluss ab. Eine volkswirtschaftliche Katastrophe. 80 000 junge Menschen pro Jahr verlassen die Schule ohne Abschluss und landen daher besonders häufig in der Langzeitarbeitslosigkeit.

Hoch hinaus kommt nur, wer schon im Kindergarten gefördert wird. (Foto: dpa)

Nun bietet ein Kindergartenbesuch gewiss noch keine Garantie für einen Harvardabschluss. Aber die Bertelsmann-Stiftung berechnete, dass sich gerade für Kinder aus bildungsfernen Schichten die Wahrscheinlichkeit, ein Gymnasium zu besuchen, um sechzig Prozent erhöht, wenn sie eine Krippe besucht haben. Je bildungsferner der Haushalt, aus dem ein Kind stammt, desto wichtiger ist also die frühkindliche Förderung. Leider nehmen in Bayern nur 72 Prozent der Migrantenkinder Angebote der Kinderbetreuung in Anspruch, während es bei den Kindern ohne Migrationshintergrund 96 Prozent sind. Das ist die eigentliche Schere.

Die Konrad-Adenauer-Stiftung schrieb im vergangenen Jahr, Milieu- und schichtenspezifische Leitbilder von Erziehung und Eltern würden sich so dramatisch auseinanderentwickeln, dass Deutschland "auf dem Weg in eine neue Art von Klassengesellschaft" sei. Die gibt es längst. In den meisten Elterninitiativen im Münchner Glockenbach- oder im Hamburger Schanzenviertel wird man sich sehr schwer tun, auch nur ein Einwandererkind zu finden. Umgekehrt besucht ein Drittel der Kinder aus ausländischen Familien Kindergärten, in denen mehr als die Hälfte der Kinder zu Hause nicht Deutsch spricht.

Dazu kommt erschwerend das strukturelle Problem hinzu, dass in den Kindergärten das föderale Bildungschaos noch größer ist als an den Schulen. 2004 beschlossen die Kultus- und Jugendminister der Bundesländer, dass jedes Land einen Bildungsplan für die Kindergärten entwickeln solle. Wie dieser Plan auszusehen habe, wurde dabei jedem Bundesland selbst überlassen. Das liegt zum einen an der Kulturhoheit der Länder; zum anderen haben die Kindergärten keinen eigenen Bildungsauftrag. Das Resultat ist auch auf der untersten Ebene ein Durcheinander aus sechzehn verschiedenen Bildungsprogrammen.

Außerdem ist die Akademisierung der Erzieherausbildung erst angelaufen. Mittlerweile gibt es viele Fachhochschul-Studiengänge für Frühpädagogik; absurderweise werden aber viele Absolventen nicht eingestellt, weil sie den kommunalen Trägern oftmals schlichtweg zu teuer sind. Deutschland gibt gerade mal 0,5 Prozent des BIP für frühkindliche Bildung aus - in den skandinavischen Ländern ist es zwei bis viermal soviel.

Dazu kommt, dass sich auch die pädagogische Forschung bislang viel mehr für Schüler als für Kindergartenkinder interessiert. Weshalb bei den seit Pisa chaotisch durcheinander experimentierenden Versuchen, den Kindergarten aus dem Dornröschenschlaf zu holen und jetzt mal dallidalli klar zu machen für die Anforderungen des globalen Wettbewerbs, meist nur versucht wird, Konzepte aus den Grundschulen auf die Kindergärten zu übertragen. Dadurch hat, wie die Pädagogen Antje Bostelmann und Benjamin Bell schreiben, "der Patient, der noch gar nicht genesen ist, seinen Nachbarn angesteckt: Bildungskindergärten sind bei weitem nicht die Lösung für erfolgreiche Bildungsbiographien deutscher Kinder."

Es geht nicht um ehrgeizige Frühlernprogramme, deren pädagogischer Wert gelinde gesagt ohnehin umstritten ist. Es geht um Zuwendung, Aufmerksamkeit und spielerisch individualisierten Spracherwerb auf Augenhöhe der Kinder unter intensiver Einbindung der Eltern. Das aber ist nur bei einem guten Betreuungsschlüssel zu bewerkstelligen. Kein einziges Bundesland erreicht den von der Bertelsmannstiftung empfohlenen Personalschlüssel von rechnerisch einem Betreuer für 7,5 Kinder.

All das spricht dafür, dass die Schere weiter aufgehen wird. Nicht bei den Zehnjährigen. Sondern schon bei den Kindern, die im Herbst in die Grundschule kommen.

© SZ vom 13.07.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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