Süddeutsche Zeitung

Umstrittene Waldorfschulen:Naturgeister im Interview

Ein neues "Schwarzbuch" prangert die dubiosen Methoden der Waldorfschulen an: Hat die Lehre von Reinkarnation, Karma, Kobolden und Feuerwesen tatsächlich etwas mit Pädagogik zu tun?

Alexander Kissler

Die bundesweit über 200 Waldorfschulen sind ein Verstoß gegen das Grundgesetz und Pflanzstätten bedenklicher Esoterik, weshalb man ihnen die Subventionen entziehen sollte: Auf diese Pointe läuft ein "Schwarzbuch Waldorf" hinaus, das in diesen Tagen erscheint (Gütersloher Verlagshaus, 224 Seiten, 16,95 Euro). Für Radau ist gesorgt, verspricht die anthroposophische "Reformpädagogik" doch einen "warmherzigen, vielseitigen und intensiven Zugang" zu den Schülern. Dergleichen Rhetorik hält das "Schwarzbuch" für Etikettenschwindel.

Keine neue Erkenntnis ist es, dass Rudolf Steiner an die Reinkarnation glaubte und auf deren Boden seine Anthroposophie entwickelte. Jeder Mensch durchlebe mehrere Existenzen, wobei das vorgeburtliche Dasein gemäß dem Schicksalsgesetz, dem Karma, das gegenwärtige bestimme. Kinder haben in dieser Sicht den Vorteil, dass sie laut Steiner "später heruntergekommen" sind "aus den geistigen Welten in die physische Welt". Darum nannte er sie "eine Art 'Telefonverbindung', indem das Ich sich fortsetzt in die göttlich-geistigen Hierarchien".

Der Lehrer als Seelenführer

Weil aber das jetzige mit dem vorherigen Leben zusammenhängt und das Kind mit dem Übersinnlichen, ist der Lehrer gefordert: als Seelenführer. Er muss als der eigentlich unverständigere, da früher geborene Mensch dem Kind Inkarnationshilfen geben, damit diesem der Übergang aus der geistigen in die physische Welt gelingt. Die Lehrer sollen die Kinder "hellseherisch" betrachten, sie mit einem "physiognomischen Blick" gewissermaßen abklopfen auf ihre vorgeburtlichen Potentiale. Lehrer müssen durchdrungen sein "davon, dass außerhalb des Planetensystems eine Welt vorhanden ist, die im Menschen sich entfaltet". Indem sie das "göttliche Rätsel" namens Kind entschlüsseln, wachsen sie selbst ihrem "höheren Menschen" entgegen: "Unsere eigene nächste Inkarnation als Erzieher redet mit den früheren Inkarnationen des Zöglings."

Die bisher nicht geklärte Frage lautet: Bestimmt dergleichen Esoterik den Alltag an den Waldorfschulen? Ist des Gründungsvaters "Geheimwissenschaft" die Raison d'Être?

Die rund 7000 Lehrer an deutschen Waldorfschulen haben eine je nach beruflicher oder akademischer Vorqualifikation ein- bis vierjährige Zusatzausbildung absolviert. Lehrerseminare gibt es in Berlin, Hamburg, Kassel, Kiel, Mannheim, Stuttgart, Nürnberg und Witten. Steiners Werk bildet die ideologische Achse. Witten etwa lehrt "Reinkarnation und Karma", die "geistigen Grundlagen der Zahlen" und das "übersinnliche Element in der Geschichtsbetrachtung".

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"Gottesdienst auf dem Weg in die Lebenswirklichkeit"

Eindrücklich ist der Lehrplan des in Jena verantworteten "Fernstudiums Waldorf-Pädagogik". Für das Diplom müssen Kurse belegt werden über "Engel, Elementarwesen, Dämonen" und das "innere Leichtwerden des Lehrers". Eine Lektion verspricht "geometrische Übungen mit Perspektiven in die Unendlichkeit - und darüber hinaus". Der Autor des Schwarzbuches, der Journalist Michael Grandt, folgert: "Der angehende Lehrer beschäftigt sich also größtenteils mit der okkulten Anthroposophie, der Theosophie, der Menschenkunde und der Geheimwissenschaft." Diese seien anno 2008 "Grundlage der Waldorfpädagogik und der Lehrerausbildung".

Die Waldorfpädagogik, schreibt ein Lehrer, solle "Gottesdienst auf dem Weg in die Lebenswirklichkeit" sein, "Waldorfschule ist Religion". In dieser Religion haben die "Naturgeister" eine wichtige Bedeutung. Die unter Waldorflehrern verbreiteten Flensburger Hefte dekretieren: Kobolde, Dämonen, Luft- und Feuerwesen seien "keine Fabelwesen, sondern reale Gestalten". Ein Heft bietet "Naturgeister, im Interview direkt befragt".

"Esoterisch-okkulte Weltanschauung"

Ob aus den possierlichen Steinerschen Porträts der Erdgeister und Erzengel, der "Frostriesen" und "Mondbrüller" ein regulärer Unterrichtstoff an den Waldorfschulen wird, ist umstritten. Wohl jeder Lehrer hat zwar die entsprechenden Kurse durchlaufen. Da die Waldorfschulen aber keinen verbindlichen Lehrplan kennen und da Bücher im Unterricht ungern gesehen werden, stattdessen das Epochenheft mit den Diktaten des Erziehungskünstlers dominiert, steht die Evaluation noch aus. Grandt sieht Grund zur Annahme, die Waldorfschule sei eine "anthroposophische Weltanschauungsschule". Steiners "esoterisch-okkulte Weltanschauung" werde zwar nicht eigens gelehrt, wohl aber angewandt.

Die Waldorfschulen halten dagegen: Zwar liege die Anthroposophie der Pädagogik zugrunde, eine "weltanschauliche Färbung des Unterrichts" ergebe sich daraus jedoch nicht. Doch das baden-württembergische Kultusministerium schreibt im Gegensatz zu den übrigen Bundesländern, "für Waldorfschulen ist der Begriff der 'Weltanschauungsschule' zu bejahen".

Baden-Württemberg ist auch insofern eine Ausnahme, als dort, in Stuttgart, 1919 die erste Waldorfschule entstand und mit bis heute 54 Schulen und 23 000 Schülern die Waldorf-Dichte am größten ist. Nur im Ländle leistet man sich den Luxus, bei Waldorflehrern "auf den Nachweis einer Ersten oder Zweiten Staatsprüfung" zu verzichten. Das "andersartige Konzept" erfordere "Lehrkräfte mit anderer Vorbildung". Abitur oder abgeschlossene Berufsausbildung in Kombination mit den nachgewiesenen Kenntnissen von Steiners Geheimwissenschaft reicht offenbar aus, um Waldorfschüler acht Jahre lang als Klassenlehrer unterrichten zu dürfen.

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Die übrigen Länder rücken vom Staatsexamen nicht ab, sind aber recht nonchalant. Was an den Lehrerseminaren gelehrt wird, will man nicht so genau wissen. In Bremen beschied man dem Autor, das "gute pädagogische Konzept" stehe nicht zur Debatte. In Nordrhein-Westfalen ist eine Evaluation der Schulen und der Seminare "nicht vorgesehen", in Rheinland-Pfalz hat man nichts dagegen, "dass Teile des Steinerschen Gedankenguts (wie Pflanzenkunde, Temperamentenlehre und Eurythmie) Grundlage der Waldorfschulen sind".

Nach Josef Kraus, dem Präsidenten des Deutschen Lehrerverbandes, wird hier das Grundgesetz verletzt. Das gesamte Schulwesen stehe laut Artikel 7 unter Aufsicht des Staates, wovon dieser bei den Waldorfschulen aber kaum Gebrauch mache. Mit "wissenschaftlicher Ausbildung, wie sie das Grundgesetz auch von Lehrern an freien Schulen verlangt", habe die anthroposophische Spekulation über Kosmos und Karma wenig zu tun.

Den Eltern ist überlassen, ob sie die Frühgeschichte der Menschheit mit der Sage von Atlantis erklärt wissen wollen, ob sie offen sind für Steiners "goetheanistische Naturwissenschaft", derzufolge der Mensch eine "umgekehrte Pflanze" sei. So hat es der Waldorflehrer gelernt.

Grandts Schwarzbuch stellt trotz unangenehm eitler Töne und miserabler Ausdrucksweise entscheidende Fragen: Wird der anthroposophische Hintergrund der Waldorfschulen hinreichend kommuniziert? Und darf der Staat in wohlwollender Neutralität verharren, wenn private Ersatzschulen einen erzieherischen Sonderweg wählen, der nach Methode und Gehalt weit entfernt ist vom Standard der ihrerseits bedrängten staatlichen Schulen? Vielleicht sollten sich die Waldorfschulen ebenso wie die Kultusministerien einen Rat zu Herzen nehmen: "Gib acht wie ein Wichtelmann", verkündete Steiner 1923 in einem Vortrag. "Der passt auf alles auf, weil er alles kennen muss, alles auffassen muss, um sein Leben zu retten. Er muss immer wachen. Wenn er schläfrig würde, wie die Menschen oftmals schläfrig sind, würde er sogleich an seiner Schläfrigkeit sterben." Evaluation tut not.

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Quelle:
SZ vom 5.9.2008/bön
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